So bin ich doch etwas wehmütig, wenn ich daran denke, dass es in der EFiD dieses Projekt nun nicht mehr gibt.
Gleich auf der ersten Mitgliederversammlung der Evangelischen Frauenhilfe in Deutschland e.V., an der ich 1990 als Delegierte aus Württemberg teilnahm, begegnete mir das Projekt „Kinderkrankenhaus Warschau“, das die ostdeutschen Frauen einbrachten. Es begannen die ersten Gespräche zur Vereinigung der beiden Frauenhilfen Ost und West, und die ostdeutschen Frauen legten großen Wert darauf, dass gerade dieses Projekt mit in den neuen Verband aufgenommen wurde.
Auf westdeutscher Seite gab es, in meiner Erinnerung, ein komplettes Nicht-Verstehen. Und um es vorwegzunehmen: An diesem und dem zweiten Projekt, das die ostdeutschen Frauen einbrachten, die Mittel-Ost-Europäische Frauenkonferenz, verlief über viele Jahre die Konfliktlinie Ost-West in unserem Verband.
Es begann also mit einer westdeutschen Haltung des Nicht-Verstehens und einer ostdeutschen Haltung des „Wenigstens diese beiden Projekte lasst uns noch“. Dazu muss man wissen: Für uns, die wir in Westdeutschland aufgewachsen waren, galt Osteuropa als No-go-Area. Der eiserne Vorhang hatte ein Feindbild in uns zementiert, das kaum zu überwinden war. Auch Ostdeutschland war schon „feindliches Gebiet“. Doch durch die Partnerschaftsarbeit zwischen den Kirchen gab es immerhin Kontakte. Aber Polen? Warum sollten wir uns um Polen kümmern? Zugespitzt gesagt: Wo war Polen überhaupt? Außerdem gab es solche konkreten Projekte auf westdeutscher Ebene, wenn überhaupt, dann in den einzelnen Mitgliedsverbänden, aber nicht verantwortet vom Gesamtverband. Auch das war uns fremd.
Die einzigen, die das etwas anders sahen, waren die württembergischen Frauen, die eine sehr intensive Arbeit im Gustav-Adolf-Werk1 machten und Beziehungen zu evangelischen Kirchen in der Diaspora in Osteuropa unterhielten. Alle anderen Mitgliedsverbände verstanden überhaupt nicht, was Polen mit ihnen zu tun haben sollte.
Die Übernahme der Einsätze im Kinderkrankenhaus Warschau wurde aber nicht rundweg abgelehnt. Die damalige Leitende Pfarrerin Christine Busch bat mich, mir das Projekt genauer anzuschauen. Es war nicht einfach, das Projekt nur für sich zu sehen. Es war zu sehr zum Kristallisationspunkt geworden, in dem sich die Ost-West-Konflikte bei der Vereinigung der beiden Frauenhilfen verdichteten: Wie sehr schätzen wir wert, was die jeweils andere Frauenhilfe geleistet hat? Respektieren wir einander? Begegnen wir uns auf Augenhöhe?
Wir standen damit auch ganz im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Konflikte der Vereinigung von Ost- und Westdeutschland. Das muss man natürlich auch sehen. Die Verantwortung für eine Versöhnung mit Polen kam, meines Erachtens, erst mit der Wende wirklich nach und nach im westlichen Teil Deutschlands an.
Meine persönliche Meinung, die ich im Verband dann auch sehr vehement vertreten habe, war, dass dieses Projekt eine große Chance für uns ist. Die Chance, Ost- und Westfrauen zusammenzubringen. Die Chance, Geschichte aufzuarbeiten. Und die Chance, Versöhnungsarbeit in die Frauenarbeit zu bringen. Zu zeigen, dass das nicht nur etwas für Männer und junge Leute ist.
Nach und nach hat sich der Gesamtverband geschlossen hinter dieses Projekt gestellt, jedes Jahr Geld und Organisation aufgewandt, um eine Gruppe von zwölf Frauen nach Warschau zu schicken. Allerdings erinnere ich mich, dass das Projekt auch weiterhin ein Brennpunkt für Konflikte innerhalb des Gesamtverbands blieb.
Interessant war zum Beispiel die Diskussion über den Begriff „Versöhnung“. Es ging um die Frage, ob Versöhnung noch zeitgemäß sei, ob es nicht ein modifizierter Versöhnungsbegriff sein müsste, der auch den Begriff „Partnerschaft“ mit einschloss. Die Meinungen reichten von: „Wir haben keine Versöhnung mehr nötig, denn unsere Generation hat kein Unheil angerichtet.“ bis hin zu: „Wir können eigentlich nur in Demut um Verzeihung bitten für das, was unsere Väter und Großväter in Polen angerichtet haben.“
Der Verband hat sich zur „Versöhnung“ bekannt. Unser Gedanke war: Wenn wir dort arbeiten, heißt Versöhnung nicht Schuld abtragen, sondern eine Basis schaffen, dass ein Heute und ein Morgen möglich wird. Und das bedeutet auch, nach Gestern zu schauen. Versöhnung heißt: Dinge miteinander anschauen, das aushalten und sehen: Wo geht es nach morgen weiter? Dazu braucht es Begegnung. So hat sich dieser Begriff von Schuld-Abtragen in eine Form des Begegnens geweitet.
In Warschau war zunächst die Evangelisch-Lutherische Kirche unsere wichtigste Projektpartnerin. Bei gelegentlichen Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit dem Krankenhaus vermittelte sie. Sie „übernahm“ sozusagen das Projekt. In dieser Zeit wurde eine Tafel im Krankenhaus angebracht, die besagte, dass es ein Projekt der Evangelischen Frauenhilfe in Deutschland und der Evangelisch-lutherischen Kirche in Polen sei. Auf meine vorsichtige Anfrage an den Bischof, dass es ganz so ja doch nicht sei, schaute er mich an und fragte: „Tut es Ihnen weh? Es ist für uns wichtig, dass klar wird, dass unsere kleine lutherische Kirche an diesem Projekt beteiligt ist.“
Und natürlich hatte er Recht. Wir mussten an dieser Stelle nicht darauf pochen, dass die Initiatorinnen des Projekts die Evangelischen Kirchen in der DDR gewesen waren, und dass zum Zeitpunkt des Gesprächs die Evangelische Frauenhilfe in Deutschland Trägerin war. So erhielten wir ganz nebenher einen Einblick in die schwierige Lage der evangelischen Kirchen in Polen in ihrer Diaspora.
An dieser Stelle möchte ich noch erwähnen, dass wir in den folgenden Jahren die Idee hatten, im Altersheim der evangelischen Kirche „Tabitha“ etwas außerhalb von Warschau einen ähnlichen Einsatz wie im Kinderkrankenhaus zu organisieren. Dem lag der Gedanke zugrunde, dass wir dort noch die Generation erreichen können, die direkt unter den Deutschen im 2. Weltkrieg gelitten hatten. In zwei Jahren fuhren auch je zwei Frauen dorthin2. Aber als Projekt ist es gescheitert. Das lag zum einen an den polnischen Partnerinnen, die uns nie klar signalisierten: „Ja, wir wollen das auch.“ Zum anderen lag es auf unserer Seite daran, dass wir nicht genügend und nicht die passenden Frauen dafür fanden.
Unser Verhältnis zu den evangelischen Kirchen in Polen – der lutherischen und der reformierten – ist über die vielen Jahre sehr eng geworden. Lange Zeit begleitete uns Halina Radacz als Koordinatorin vor Ort. Frauen aus den Gemeinden waren Gastgeberinnen für die Gruppen. Wir haben sehr von dem Engagement der evangelischen Gemeinden profitiert. Es war ein Nehmen, aber auch ein Geben. Denn zum einen war unser Projekt ein kleines Aushängeschild für die evangelischen Kirchen in Polen. Zudem hofften sie, wie sie uns sagten, dass unsere Versöhnungsarbeit zu einem Anstoß und einem Vorbild werden könnte für eine Aussöhnung zwischen Polen und Russland und Polen und der Ukraine.
Das Besondere an unserem Projekt war ja, dass ganz „normale“ Frauen sich dem Versöhnungsgedanken stellten. Und dass dadurch auch in Polen Menschen darüber ins Gespräch kamen, die ohne den Anstoß durch dieses Projekt gar nicht auf die Idee gekommen wären, dass Versöhnung ein Thema ist.
Ich denke: Die meisten Frauen, die mitfuhren, fuhren nicht mit, weil es ein Projekt der Frauenhilfe war, sondern aus verschiedensten, oft sehr persönlichen Motiven heraus. Daher war es auch nicht immer einfach, das Projekt zu bewerben. Die ursprüngliche Idee, dass jede Frauenhilfe zwei Plätze in der Gruppe bekommt und auf diese Plätze zwei Frauen delegiert, funktionierte schon sehr bald nicht mehr.
Zur Frage der „passenden“ Frauen für die Einsätze muss ich leider sagen, dass wir manchmal Frauen dabei hatten, die einiges an Porzellan zerschlagen haben. Etwa, wenn einige mit der Einstellung „Wir helfen mal den armen Polen“ nach Warschau fuhren.
Wir haben versucht, dem über die Leiterinnen der Gruppen entgegenzuwirken. Außerdem begannen wir, Vorbereitungswochenenden oder –tage zu organisieren, um bereits im Vorfeld mehr Wissen über Geschichte und Gegenwart Polens zu vermitteln. Das hatte zur Folge, dass einige Frauen absprangen, denen das zu aufwendig und unnötig erschien. Von denen, die daran teilgenommen haben, bekamen wir durchweg positive Rückmeldungen.
Das Projekt Kinderkrankenhaus Warschau hat alle diese Konfliktlinien, Probleme und Diskussionen überlebt. Alle Frauen, die damit zu tun hatten, haben dafür gesorgt. Und wir alle haben davon profitiert. So bin ich doch etwas wehmütig, wenn ich daran denke, dass es in der EFiD dieses Projekt nun nicht mehr gibt.
Für mich persönlich haben sich Mittel- und Osteuropa erst mit der Beschäftigung in den Frauenkonferenzen und mit dem Projekt „Kinderkrankenhaus Warschau“ erschlossen. Ich wuchs nur vier Kilometer von der „Zonengrenze“3 auf und habe tief verinnerlicht, dass hinter diesen vier Kilometern die Gefahr lauert. Diese Gefahr hatte auch einen Namen: der Osten. Für mich war es ein großer Schritt, als ich das erste Mal in die DDR reiste und später nach Polen und Tschechien.
Meine Mutter, eine vertriebene Sudetendeutsche4 , nimmt es mir bis heute übel, dass ich dorthin reise. Und das auch noch gerne. Für mich sind die osteuropäischen Länder heute ebenso Reiseländer wie Frankreich, Spanien oder Italien. Das habe ich zum größten Teil meiner Arbeit in der Evangelischen Frauenhilfe zu verdanken, und darin den beiden Projekten, die die ostdeutsche Frauenhilfe in die Vereinigungsverhandlungen mit einbrachte.