Ilona Helena Eisner

Wir wollten etwas wieder gutmachen.

 

Das erste Mal fuhr ich 2006 als Leiterin einer Gruppe der Evangelischen Frauenhilfe in Deutschland nach Warschau. Vorausgegangen war meine Mitarbeit im Vorstand des Verbandes als Delegierte aus der thüringischen Frauenarbeit. Zu dieser Zeit war ich die einzige Frau aus den östlichen Bundesländern im Vorstand. Als eine Leiterin für das Warschau-Projekt gesucht wurde, fiel die Wahl sehr schnell auf mich. Und es hat mich gereizt. Sehr sogar. Immerhin bin ich dann vier Jahre lang jeden Sommer zwei Wochen ins Kinderkrankenhaus gefahren. Ich war alleinerziehend – erst mit drei, dann mit vier Kindern – und habe es immer geschafft, in dieser Ferienzeit meine Kinder von anderen betreuen zu lassen, damit ich nach Warschau fahren konnte.
Zuvor hatte ich mich in der Rumänienhilfe engagiert. Schon dort hatte ich das Gefühl, mit meinem Engagement etwas zurück zu geben, was Deutsche in früheren Zeiten den Menschen dort genommen haben. Einmal hatte ich meine älteste Tochter mitgenommen, die damals 13 oder 14 Jahre alt war. Und ich sagte ihr: „Weißt Du, die sind arm, weil es uns gut geht. Und wir bringen ihnen nur ein Stück zurück von dem, was wir ihnen weggenommen haben.“ So erging es mir in Warschau wieder.
Wenn ich mich recht erinnere… – Dieser Satz muss immer davor stehen, weil ich die vier Einsätze schnell einmal durcheinander bringe, und weil ich keine Aufzeichnungen mehr besitze seit meinem letzten Umzug. Also: Wenn ich mich recht erinnere, war es jedes Jahr schwierig, die zwei Wochen im Krankenhaus zu organisieren – finanziell und personell.

 

Und doch ging’s Jahr für Jahr weiter.

Der Verband hat alle Kosten des Aufenthalts getragen – bis auf die Anreise zum Vorbereitungswochenende in Görlitz und die Heimreise ab Berlin. Wenn die Summe nicht durch das Spendenaufkommen des Jahres gedeckt war, sprang kurzfristig die Frauenarbeit einer Landeskirche ein. Es war also immer eine Zitterpartie. Und jedes Jahr überlegten wir von neuem, ob das Projekt weitergehen soll. Aber Befürworterinnen wie Petra-Edith Pietz aus Görlitz und Angelika Weigt-Blätgen aus Westfalen kämpften vehement für die Warschau-Einsätze.
Wir hatten zudem ein personelles Problem: Es gelang uns nicht mehr, jüngere Frauen zum Mitkommen zu motivieren. Und die Einsätze in Warschau waren sehr anstrengend. Jeden Tag vier Stunden arbeiten, etwa im Gartenteam bei hochsommerlichen Temperaturen. Dann blieb nur eine kleine Mittagspause, bevor unser Nachmittagsprogramm begann, das uns oft auch psychisch einiges abverlangte. Um in die Stadt zu kommen, mussten wir eine dreiviertel Stunde Bus fahren, manchmal im Stehen, weil der Bus voll war. Jedenfalls waren diese zwei Wochen keine Erholung und für alte Frauen schwer zu bewältigen. Wir versuchten, das im Vorfeld sehr deutlich zu kommunizieren, aber nicht immer gelang es uns.
Aber irgendwie ging es Jahr für Jahr weiter, fand sich das Geld, fanden sich die Frauen, und wir waren froh, wenn es wieder geschafft war.

 

Warum zwei Wochen nach Warschau fahren?

So unterschiedlich die Teilnehmerinnen waren, so unterschiedlich waren auch ihre Motive. Nach meiner Erinnerung waren es aber wenige, die sich von vornherein mit dem Versöhnungsgedanken auf den Weg machten.
Manche suchten eine Gruppe, der sie sich im Urlaub anschließen konnten, andere sortierten vorher ihren Kleiderschrank aus und wollten ihre alten Sachen in Warschau lassen – auch das kam vor. Manche wollten die Heimat ihrer Vorfahren besser kennenlernen, andere waren froh, dass die zwei Wochen bezahlt wurden, weil sie sich sonst so eine Fahrt nicht hätten leisten können.
Es gab natürlich auch in jeder Gruppe Frauen, die sich ganz gezielt nach Polen auf den Weg gemacht haben, um ihren Horizont zu erweitern und abseits der touristischen Pfade polnisches Leben und die Geschichte Polens kennenzulernen. Durch unser Programm wurde allen schnell deutlich, dass dies ein Versöhnungseinsatz ist und wir uns der Geschichte Polens im Zweiten Weltkrieg stellen werden.
Am Abschlussabend machten wir eine Auswertungsrunde, und jede erzählte von ihren Erlebnissen in diesen zwei Wochen. Da gab es dann viele sehr begeisterte und beeindruckte Frauen, die oft auch ein zweites oder drittes Mal mitkamen.

Zwischenstop in Görlitz


Bevor wir nach Warschau fuhren, trafen wir uns als Gruppe in Görlitz in den Räumlichkeiten der Frauen- und Familienarbeit der Evangelischen Kirche der schlesischen Oberlausitz.
Dort war Christine Pink unsere Ansprechpartnerin und Referentin für das Wochenende. Wir lernten uns als Gruppe kennen, sprachen über unsere Erwartungen und bereiteten uns inhaltlich auf den Einsatz vor. Dabei spielte die Geschichte Polens ebenso eine Rolle wie der Versöhnungsgedanke.
Wir gingen dort immer auch über die Brücke in den polnischen Teil der Stadt, nach Zgorzelec, um die polnische Sprache zu hören, schon mal Geld umzutauschen und einen ersten Kontakt mit Polen aufzunehmen. Es war zwar umständlicher für alle, erst nach Görlitz zu kommen und von dort nach Warschau zu fahren. Aber es hat sich immer gelohnt, dass wir uns diese Zeit vorher genommen haben.

 

Helfende Hände willkommen

Von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Krankenhauses wurden wir freundlichst empfangen. Immer wieder ergaben sich Gespräche und manchmal auch darüber hinausgehende persönliche Kontakte.
Unsere Ansprechpartnerin im Krankenhaus war Schwester Barbara Burzyńska, mit der es ein sehr gutes Miteinander gab. Oft war auch ihr Sohn Konrad als Dolmetscher mit dabei. An unserem ersten Tag führten sie uns durch den ganzen Krankenhauskomplex. Dabei kamen wir auch zur Mauer im Eingangsbereich, auf der das Logo des Krankenhauses zu sehen ist. Wenn man näher an die Mauer herantrat, sah man, dass sie vollständig aus Geschosshülsen gebaut war, die nach dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurden. Das war sehr beeindruckend.
Dann teilten wir uns auf: die einen arbeiteten im Garten, die anderen auf den Stationen. Das bedeutete, Kinder auf ihren Wegen im weitläufigen Krankenhauskomplex zu begleiten. Die Eltern wurden vorher um Zustimmung gebeten, dass unsere Frauen ihre Kinder betreuen durften. Und Barbara hatte ein sehr gutes Händchen bei der Auswahl, welches Kind von welcher Frau betreut werden sollte. Sie guckte sich am Anfang die Frauen an, und es passte immer.
In einem Jahr kam die Mutter eines schwerkranken Kindes auf mich zu und bedankte sich bei mir, dass wir da sind und diese Arbeit machen. Eine andere Mutter sagte sinngemäß: „Unsere Kinder können nie verreisen, weit weg. Aber dadurch, dass Ihr hier seid, bringt Ihr ein bisschen die Welt zu den Kindern.“
Um den Kindern beim Warten auf die nächste Behandlung die Zeit zu vertreiben, hatten wir meistens kleine Spiele mit, die man auch ohne Sprachkenntnisse miteinander spielen konnte. Ein Memory oder ein Kartenspiel machte sich da immer gut. Einmal hatte eine Frau einen 15-Jährigen zu betreuen. Da war mit Memory nun nichts mehr zu machen, sondern war Kreativität gefragt. Aber auch das bewältigten wir.
Im Gartenteam gab es jedes Jahr reichlich zu tun. Und wir wurden gebraucht, denn es war Urlaubszeit, und Ewa Rogosz, die Leiterin des Teams, freute sich über jede helfende Hand. Ich selbst traute es mir in den ersten Jahren nicht zu, auf den Stationen zu arbeiten, weil ich nicht wusste, wie ich das Leid dieser kranken Kinder verkraften würde. Doch die letzten beiden Jahre ging ich dann doch in diesen Arbeitsbereich und war sehr froh darüber. In einem dieser Jahre hatte ich meine 10jährige Tochter mitgenommen und habe in diesen zwei Wochen im Schwimmbad des Rehabilitationszentrums gearbeitet. Meine Tochter bekam manchmal viel schneller als ich einen Kontakt zu den Kindern und konnte besonders einem kleinen Mädchen durch ihre Späße die Angst vor dem Wasser nehmen. Es schrie, sobald es ins Schwimmbad kam. Dann fing meine Tochter an, im Wasser Faxen zu machen, bis das Kind still wurde und sich ganz auf sie konzentrierte. Von da an guckte es schon am Eingang, ob meine Tochter da war, und weinte auch nicht mehr während der Behandlung.

 

Warschauer Begegnungen

Das Programm für die Zeit außerhalb der Arbeit im Krankenhaus bereitete vor allem Halina Radacz vor. Sie ist Diakonin und Leiterin einer Gemeinde in der Nähe von Warschau und war viele Jahre lang Begleiterin unserer Gruppen.
Unbedingt dazu gehörte mindestens ein Besuch in der evangelischen Gemeinde. Der Frauenkreis der Gemeinde lud uns zu Kaffee und Kuchen ein. Da wir jedes Jahr kamen, kannten wir viele Frauen schon. Die meisten von ihnen waren hochbetagt, und einige von ihnen sprachen Deutsch. Es war immer ein sehr herzliches Miteinander.
Eine dieser Frauen traf ich eines Tages zufällig in der Innenstadt. Sie lud mich zu einem Kaffee zu sich nach Hause ein. Ich ging mit, und sie erzählte mir ihre Lebensgeschichte, an die ich später noch oft gedacht habe. Sie ist Sudetendeutsche und ging 1945 nicht mit ihren Eltern auf die Flucht, weil sie, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, noch in einem Ausbildungsverhältnis stand. Sie war 16. Ihre Familie geriet in Dresden in die Bombardierung der Stadt, und alle kamen ums Leben. Sie war nun ganz auf sich allein gestellt und blieb in Polen. Als die Polen kamen, stellten sie sie als Magd auf dem Hof ein, der früher ihren Eltern gehört hatte, und nutzten ihre Arbeitskraft aus. Dann verliebte sie sich in einen polnischen jungen Mann, der sie heiraten wollte. Weil sie evangelisch und deutsch war, wollten seine Eltern es nicht erlauben. Als sie schwanger wurde, heirateten sie doch. In der Familie ihres Mannes aber blieb sie die unerwünschte Deutsche, die mit verantwortlich gemacht wurde für die Taten der Deutschen in Polen. Besonders ist mir nachgegangen, dass sie sinngemäß sagte: „Ich spreche nicht richtig Deutsch, nur Deutsch mit Akzent, und ich spreche nicht richtig Polnisch, weil das eine schwere Sprache ist. Und ich habe immer Angst, wenn die Zeiten sich noch mal ändern, dass ich nirgendwo mehr hingehöre – weil die einen mich nicht als Polin und die anderen mich nicht als Deutsche akzeptieren.“ Allein, um diese Frau kennengelernt zu haben, hatte sich für mich die Reise gelohnt.
Meistens besuchten wir auch einen Sonntagsgottesdienst in der Trinitatiskirche und wurden danach zum Essen eingeladen. Anschließend erhielten wir eine Führung durch das frühere jüdische Ghetto. Überhaupt spielte die polnische und die jüdische Geschichte Warschaus bei unserem Aufenthalt immer eine große Rolle. Wenn wir über den 1. August da waren, nahmen wir auch an den Gedenkfeiern für den Warschauer Aufstand 1944 teil. Beim ersten Mal hatte uns Halina empfohlen, auf den Platz vor dem Mahnmal, das an den Aufstand erinnert, zu gehen. Aber wir sollten darauf verzichten, uns zu unterhalten. Die deutsche Sprache weckt bei vielen Polinnen und Polen gerade an diesem Tag schmerzliche Erinnerungen.
Das erinnert mich an eine Begebenheit im Bus, der uns vom Krankenhaus in die Innenstadt brachte. Wir saßen in der Gruppe zusammen und plauderten. An einer Haltestelle stieg ein alter Mann aus und spuckte uns vorher noch vor die Füße. Wir waren natürlich erschrocken. Am Abend sprachen wir noch einmal darüber. Dieser Mann konnte einfach die deutsche Sprache nicht ertragen, und er zeigte es auf diese Weise, auch wenn wir persönlich nicht diejenigen waren, die seiner Familie Leid zugefügt hatten. Auch wenn es für uns schwer zu ertragen war, habe ich doch versucht zu erklären, dass wir diese Reaktion einfach aushalten müssen, und es uns nicht zusteht, diesen Mann für seine Verachtung zu verurteilen.
Besonders eindrucksvoll war für mich die Verbindung der Besichtigungen des alten Warschauer Schlosses und des neuen Kulturpalastes. Im Foyer des Schlosses empfängt einen ein riesiges schwarz-weißes Panoramafoto vom zerstörten Warschau. Es ist erschreckend und berührend zu sehen, wie da ein paar Kirchtürme aus Schutt und Asche hervorragen. Anschließend fuhren wir auf den Kulturpalast und sahen uns Warschau von oben an. Der Stadtlärm brauste von unten herauf, und ich hatte das Gefühl, den Puls der Stadt zu hören. Der Gegensatz von dem Foto im Schloss und dem pulsierenden Warschau, das wir vom Kulturpalast aus sehen konnten, hätte größer nicht sein können – ein unvergesslicher Eindruck.
Eine Besonderheit war die Besichtigung der Universitätsbibliothek von Warschau. Sie ist etwas außerhalb erbaut und völlig begrünt. Man kann Teile der Bibliothek von oben begehen und einen Blick in die Lesesäle werfen. Architektonisch und gartengestalterisch ist das ein sehr beeindruckendes Gebäude.

 

Gesprächsbedarf in der Gruppe

Neben den organisatorischen Aufgaben war ich dafür verantwortlich, die Gruppe im Blick zu haben. Denn wir haben viele aufwühlende Dinge erlebt, und es gab oft Gesprächsbedarf. Dafür war ich da. Am Anfang musste ich mir immer erst ein wenig Autorität verschaffen, weil ich einige Jahre jünger war als die meisten der Teilnehmerinnen. Aber nach einem Tag war es meistens geschafft.
Jeden Morgen habe ich eine Andacht gehalten – oder eher ein Morgenritual. Das war mir sehr wichtig, denn tagsüber hatten wir wenig Zeit als Gruppe zusammenzukommen und Kraft zu tanken. Der Umgang mit den kranken Kindern forderte uns alle heraus. Dazu die vielen Erlebnisse bei unserem Nachmittagsprogramm. Da brauchte es einen verlässlichen Ort der Stille und des Sich-Besinnens. Diesen Ort zu schaffen, sah ich auch als meine Aufgabe an.

 

Es war mir ein Bedürfnis

Dass ich vier Mal als Leiterin die Einsätze begleitet habe, zeigt, wie gerne ich diese Arbeit gemacht habe. Unsere Arbeit im Krankenhaus war im Garten sicher auch eine Unterstützung, auf den Stationen waren wir wohl keine so große Hilfe. Aber das Zeichen, das wir gegeben haben, war: Wir wollen etwas wieder gut machen.
Man kann zur Schuld der Nachgeborenen stehen, wie man will. Aber das, was unsere Väter und Großväter in Polen im Zweiten Weltkrieg getan haben, das hängt uns als Schuld trotzdem an, vielleicht bis ins siebte Glied, wie es in der Bibel heißt. Mir war das Einbringen meiner Zeit und Kraft für dieses Projekt ein Bedürfnis.

Die Versöhner_innen.