Inge Heiling

Sie sangen und sangen und sangen. Inbrünstig. Es war unglaublich.

Ich habe heute noch vor Augen, wie Gudrun Althausen, die damalige Vorsitzende der Evangelischen Frauenhilfe in der DDR, bei einer unserer Tagungen vor uns stand und das Projekt „Kinderkrankenhaus Warschau“ erläuterte. Das muss im Herbst 1988 oder im Frühjahr 1989 gewesen sein. Denn es wurde eine aus unseren Reihen gesucht, die den 14-tägigen Arbeitseinsatz im Sommer 1989 leiten sollte.
Ich war wie elektrisiert. Das war ein Projekt, das ich sofort sehr spannend fand. Die Versöhnung mit Polen empfand ich auch 44 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als wichtige Arbeit. Und der Einsatz im Kinderkrankenhaus war so konkret. Ganz praktische Arbeit und dazu ein Programm, um Geschichte und Gegenwart Polens kennenzulernen. Da meldete ich mich sehr gern, um die Gruppe für 1989 zu leiten. In den vergangenen Jahren hatte ich die Spendenaufrufe für das Kinderkrankenhaus zur Kenntnis genommen, allerdings nur am Rande die Versöhnungseinsätze wahrgenommen. Das änderte sich jetzt.

 

Frauen in der Tradition von Aktion Sühnezeichen

Für die Frauen, die mitfuhren, war es ganz klar, dass das ein Versöhnungseinsatz wird, der auf der Tradition von Aktion Sühnezeichen aufbaut, die schon viele Jahre Jugendgruppen in das Kinderkrankenhaus schickte1. Die einzelnen Landesstellen der Frauenhilfen und Frauenwerke in der DDR brachten das bei der Werbung für Teilnehmende auch so zur Sprache. Die Frauen fuhren mit, um zu sehen, wie es heute in Polen ist, und um dort mit ihrer unentgeltlichen Arbeit ein Zeichen zu setzen.
In diesem Jahr, 1989, fuhr erst zum dritten Mal eine Frauengruppe zusätzlich zu den Jugendgruppen nach Warschau. Das fand ich auch eine sehr sinnvolle Sache. Denn wenn wir als christliche Frauen die Chance haben, uns in so ein Projekt einzubringen, dann sollten wir sie auch nutzen. So sahen das auch alle anderen Leiterinnen der Landesstellen der Frauenhilfe.
Die Vorbereitungen wurden vom Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR geleistet: die Beantragung der Genehmigungen von den DDR-Behörden, die Absprachen mit dem Krankenhaus, die Organisation des Nachmittags- und Abendprogramms, die Hin- und Rückfahrt.

 

Los ging’s mit dem Nachtzug Berlin-Warschau.

Wir trafen uns als Gruppe in Berlin und fuhren gemeinsam mit dem Nachtzug nach Warschau. Dort wurden wir am Bahnhof abgeholt und fuhren mit dem Bus hinaus zum Kinderkrankenhaus am Stadtrand. Im Elternhotel bekamen wir Zwei-Bett-Zimmer und eine Rundum-Verpflegung. Als Gruppe trafen wir uns morgens beim Frühstück und besprachen den Tag. Auch am Abend versammelten wir uns meistens noch einmal, um die Eindrücke des Tages auszutauschen.
Im Krankenhaus teilten wir uns in die Arbeitsbereiche Wäscherei, Küche und Garten auf. Überall waren wir willkommene Arbeitskräfte – es war Urlaubszeit, und etliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fehlten. Ich meldete mich für den Garten, weil ich dachte, dass ich da eventuell schneller abkömmlich wäre, falls mal etwas zu besprechen war. In der Wäscherei standen die Frauen an der Mangel und konnten nicht einfach gehen. Und in der Küche mussten Berge von Gemüse vorbereitet werden, damit das Mittagessen für alle rechtzeitig auf dem Tisch stand.

 

Verständigung mit Händen und Füßen

An unseren Arbeitsplätzen sind wir sehr freundlich aufgenommen worden. Die Sprachbarriere umschifften wir mit Händen und Füßen. Wir waren des Englischen nicht besonders mächtig, die polnischen Frauen konnten aber manchmal ein wenig Deutsch. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass es jemanden gab, der für uns dolmetschte. Also waren wir auf unseren Erfindungsreichtum angewiesen.
Es war ein gutes Miteinander an unseren verschiedenen Arbeitsplätzen. Eine kleine, ich nenne es mal Anpassungsschwierigkeit, gab es am Anfang von unserer Seite aus. Unsere Frauen waren sehr enthusiastisch und wollten so richtig „ranklotzen“. Außerdem arbeiteten wir nur den halben Tag, und fanden eine zusätzliche Pause am Vormittag unnötig. Dass wir mit diesem etwas übertriebenen Arbeitseifer nicht so gern gesehen waren, verstanden wir aber sehr schnell und passten uns dem Arbeitstempo der polnischen Mitarbeiterinnen an.

 

Begegnungen mit Geschichte

Für unsere freie Zeit gab es einige Termine, die organisiert waren. Ein besonders schöner Ausflug ging nach Żelazowa Wola, den Geburtsort Frédéric Chopins. Wir besichtigten das Museum in seinem Geburtshaus und den dazugehörigen Park. Es war ein sonniger Tag, und wir konnten im Garten sitzen und Klaviermusik von Chopin lauschen, die in den Garten übertragen wurde.
Für unseren Wunsch, in die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Majdanek2 zu fahren, stellte uns die Krankenhausleitung einen Kleinbus zur Verfügung. Bis heute ist für mich der Besuch in Majdanek das wichtigste Ereignis während des Aufenthalts in Polen gewesen. Es hat mich nachhaltig beeindruckt. Wir trafen uns am Abend vorher und bereiteten uns darauf vor: Was wird uns erwarten? Mit welchen Gefühlen und Erwartungen fahren wir dorthin? Wir vereinbarten, am nächsten Morgen für jede eine Gladiole in den polnischen Farben rot und weiß zu kaufen. Jede Frau konnte ihre Blume dann an einem Ort im Konzentrationslager ablegen.
Eine Mitarbeiterin der Gedenkstätte führte uns in deutscher Sprache. Ich erinnere mich, dass wir immer zu zweit oder zu dritt untergehakt gingen, um uns gegenseitig zu stärken. Es waren furchtbare Dinge, die wir dort sahen – zum Beispiel den Berg aus den Schuhen der ermordeten Kinder. Als wir zu den Verbrennungsöfen kamen, waren wir vollkommen sprachlos. Dann begann ich mit zittriger Stimme das Vaterunser zu beten. Als ich hörte, dass unsere polnische Führerin mitbetete, kamen mir die Tränen. Ich empfand es als einen kurzen Moment der Versöhnung. Als wir das Konzentrationslager verließen, bedankte sich die Führerin bei uns.
Bis zum Abend sprachen wir nicht mehr über diese Erlebnisse. Wir fuhren mit unserem Bus noch zu einem Museumsdorf – wir brauchten Zeit zum Luftholen und gönnten uns diesen touristischen Nachmittag. Am Abend saßen wir wieder zusammen und tauschten uns aus. Wir kamen darauf zu sprechen, wo unsere Väter im Zweiten Weltkrieg waren. In der DDR war die offizielle Meinung ja, dass es in diesem Teil Deutschlands keine Faschisten gab und gibt – dass diese Menschen alle in der BRD lebten. So entstand die große Distanz zu dem, was wir über die Taten der Deutschen in Polen und überall in Europa während des Krieges wussten. Und auch zu uns selbst. An diesem Abend kam uns das Geschehen sehr nah und wurde zu etwas Persönlichem.
Am 1. August erlebten wir dann das Gedenken an den Warschauer Aufstand 1944 mit. Uns war empfohlen worden, auf einen Friedhof zu gehen, wo sehr viele der ganz jungen Kämpfer des Aufstandes begraben liegen. Wir fuhren dorthin und waren überwältigt. Es waren viele, viele Menschen da. Überall lagen rote und weiße Blumen, Kerzen brannten auf den Gräbern. Am meisten beeindruckt waren wir vom Gesang der Menschen. Sie sangen und sangen und sangen. Inbrünstig. Es war unglaublich. Wir sahen mit einem gewissen Neid auf dieses Geschehen und fragten uns, ob so etwas bei uns auch möglich wäre, und was wir wohl singen würden.
In der evangelischen Gemeinde in Warschau waren wir zu einem gemeinsamen Essen mit Gemeindegliedern eingeladen. Wir genossen die Gastfreundschaft und knüpften persönliche Kontakte. Und natürlich besichtigen wir auch die Altstadt von Warschau und sahen überall die Gedenktafeln zur Geschichte Warschaus. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass an einem Haus an einen Priester erinnert wurde, der für die Gewerkschaft „Solidarność“3 eingetreten ist und umgebracht wurde4.

Wende-Zeit

Zurück von unserem Einsatz in Warschau, berichtete ich natürlich darüber in der Herbstversammlung der Evangelischen Frauenhilfe in Potsdam. Bald danach, 1989 und 1990, überrollten uns dann die politischen Veränderungen in unserem Land5. Ich wechselte aus der Frauenhilfe in der Mecklenburgischen Landeskirche über einen kleinen Umweg in die Zentrale der Frauenhilfe nach Potsdam.
Das war 1991. Da hatten auch bereits die Verhandlungen über die Zusammenführung der Frauenhilfen Ost und West begonnen. Ich habe in diesen Verhandlungen das Warschau-Projekt als unbedingt weiterzuführendes Projekt mit eingebracht und sehr dafür gekämpft. Im „Ökumenischen Forum christlicher Frauen in Europa“6 wurden auf einem Treffen nach der Wiedervereinigung beider deutschen Staaten Ängste vor diesem neuen großen Deutschland geäußert, die mich aufgeschreckt haben. Was in unserer Macht stand, wollten wir tun, um diese Ängste abzubauen. Auch deshalb engagierte ich mich so vehement für die Weiterführung des Projekts. Die Einsätze im Kinderkrankenhaus Warschau wurden als einziges Projekt aus dem Osten mit aufgenommen in die neue gemeinsame Frauenhilfe und weitergeführt.
Zwei oder drei Jahre lang betreute ich dann die Vorbereitung der Einsätze. Dazu gehörte auch, dass ich ein Begegnungswochenende der Gruppe in Potsdam vor dem Einsatz organisierte. Jetzt fuhren Frauen aus Ost- und Westdeutschland zusammen nach Warschau. Die Distanz zwischen ihnen war erheblich, und ich hielt es für dringend nötig, dass die Frauen sich vorher kennenlernten und über ihre Erwartungen und Wünsche austauschten, bevor sie zu einem Versöhnungseinsatz aufbrachen. Diese Vorbereitung wurde sehr positiv aufgenommen. In den Folgejahren fuhren nach und nach immer mehr Frauen aus den westlichen Bundesländern nach Warschau. Die Frauen aus den östlichen Bundesländern sahen sich den Rest der Welt an, der ihnen vor 1989 verschlossen geblieben war. Aber nach einer gewissen Zeit mischte es sich wieder.
Ich bin sehr froh, dass das Projekt bis 2015 weitergeführt wurde. Das bestärkt mich auch im Nachhinein noch einmal darin, dass es eine richtige Entscheidung war, mich im Umbruch nach der Wiedervereinigung für die Einsätze im Kinderkrankenhaus zu engagieren.

 


 

  1. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. – 1958 gegründeter Verein mit christlichen Wurzeln zur Versöhnung mit den von Deutschland im 2. Weltkrieg überfallenen Ländern und den Jüd_innen in aller Welt. Im Folgenden abgekürzt: ASF. Zur Geschichte von ASF siehe https://www.asf-ev.de/ueber-uns/geschichte/
  2. Konzentrationslager in Lublin von Oktober 1941 bis zum Juli 1944.
  3. Solidarność ist der Name einer polnischen Gewerkschaft, die 1980 aus einer Streikbewegung heraus entstand, und an der politischen Wende 1989 entscheidend mitwirkte.
  4. Wahrscheinlich Jerzy Popiełuszko, 1947–1984, ein katholischer Priester, der wegen seiner Unterstützung für die unabhängige Gewerkschaft Solidarność 1984 von Männern des polnischen Geheimdienstes ermordet wurde. An seiner Trauerfeier in und vor der Maxim-Kostka-Kirche in Warschau nahmen 800 000 Menschen teil.
  5. 9. November 1989 Fall der Berliner Mauer, 3. Oktober 1990 Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten
  6. Das ÖFCFE wurde 1982 gegründet und ist eine Ökumene-Plattform für Frauen verschiedener christlicher Traditionen aus dem europäischen Raum. – mehr unter www.oekumeneforum.de
Die Versöhner_innen.