Margot Papenheim

Wir haben etwas beigetragen zur deutsch-polnischen Versöhnung – und damit auch zur europäischen Einigung.

Meine Arbeit als Ökumene-Referentin bei der Evangelischen Frauenhilfe in Deutschland begann im Jahr 2000. Zu meinen Aufgaben gehörte die Betreuung des Projekts im Kindergesundheits- und –gedächtniszentrum (KGGZ) in Warschau.
Meine ersten Erfahrungen sammelte ich mit der Vorbereitung des Einsatzes 2001. Doch schon im folgenden Jahr geriet das Projekt in eine Krise. Bei Teilnehmerinnen und Leiterinnen der Fahrten wurde zunehmend die Frage laut, ob es noch zeitgemäß sei, unter der Überschrift „Versöhnung“ nach Warschau zu fahren – oder ob in einem vereinten Europa eher eine „Partnerschaft“ oder „Nachbarschaft“ anstehe. Es ging für die nach dem 2. Weltkrieg Geborenen um das Gefühl, sich nicht mehr versöhnen, keine Schuld mehr abtragen zu müssen.
Hinzu kam: Das Projekt, das ja aus den DDR-Kirchen gekommen und von der Ost-Frauenhilfe „mitgebracht“ worden war, war mittlerweile vollständig in den Westen „gerutscht“. Leiterinnen wie Teilnehmerinnen kamen zu der Zeit fast ausschließlich aus den alten Bundesländern.
Im Vorstand und in der Geschäftsstelle der Frauenhilfe waren wir uns allerdings einig: Die Frage, ob und wie dieses Projekt weitergeführt werden sollte, konnten wir nicht ohne unsere polnischen Partner_innen entscheiden. Und so reisten Brunhilde Raiser als Vorsitzende, Ingrid Hampel als stellvertretende Vorsitzende und ich als Referentin nach Warschau und hatten dort eine Reihe von sehr intensiven Gesprächen.

 

Immer noch „Versöhnung“ – über 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs?

Im Kinderkrankenhaus hatte es Strukturveränderungen gegeben, mit denen das Personal und die Leitung sehr beschäftigt gewesen waren. Die deutschen Frauen, die im Sommer für zwei Wochen kamen und guten Willens arbeiten wollten, waren darüber etwas vernachlässigt worden.
Zugleich hatten sich die Verhältnisse insgesamt mit den Jahren sehr verändert. So war es jetzt beispielsweise überhaupt nicht mehr angebracht, getragene Kleidung zum Verschenken mitzubringen, wie es einige unserer Teilnehmerinnen noch taten, oder gar ein eigenes Schälmesserchen für die Küchenarbeit in der Tasche zu haben. Die Küche war längst professionalisiert worden, und unsere Frauen durften schon wegen der Hygienevorschriften gar nicht mehr dort arbeiten. Im Gespräch mit dem damaligen Direktor des Kinderkrankenhauses konnten wir vieles klären – wichtig war uns vor allem zu erfahren, dass unsere Arbeit wirklich weiter gewollt war, und dass das KGGZ auch wieder mehr Verantwortung für die Begleitung der Frauengruppen übernahm.
Im Gespräch mit unseren Partner_innen beim Polnischen Ökumenischen Rat1 , namentlich mit dem Geschäftsführer Andrzej Wójtowicz und der Referentin Kornelia Pilch, entstand die gemeinsame Sicht, dass „Versöhnung“ sich nicht nur auf die Geschichte unserer beiden Länder beziehen kann, sondern ein dauerhafter, nach vorne geöffneter Prozess sei. Diese Formel übernahmen wir dann auch in unser Ökumenekonzept2.
Die eindrücklichste Begegnung hatten wir in den evangelischen Gemeinden in Warschau. Bei einem Treffen mit Frauen aus den Gemeinden wurde viel erzählt, Halina Radacz, unsere langjährige Kontaktfrau in Warschau, übersetzte. Zwischen Brunhilde Raiser und mir saß eine sehr alte polnische Frau, die wenig sagte, aber sehr konzentriert zuhörte. Gegen Ende des Treffens sprach sie plötzlich Brunhilde Raiser an und sagte in fast fehlerfreiem Deutsch: „Wissen Sie, dass ich zum ersten Mal seit 1943 wieder Deutsch rede? Ich hatte mir damals geschworen, diese Sprache nie wieder zu sprechen.“ Und dann erzählte sie ihre Geschichte.
Spätestens in diesem Moment hatte sich für uns die Diskussion, ob Versöhnung noch „angesagt“ ist, erledigt. Das lag einfach auf der Hand. So lange es Menschen gibt, die persönlich den 2. Weltkrieg erlebt und unter deutscher Herrschaft gelitten haben, ist Versöhnung bitter nötig. Aber auch, so lange es Ressentiments und Vorurteile auf beiden Seiten gibt, brauchen wir immer wieder Versöhnung.
Diesen Gedanken versuchten wir in den Folgejahren unseren Teilnehmerinnen in vorbereitenden Seminaren nahezubringen. Einmal, für die Fahrt 2003, haben wir es sogar geschafft, ein eigenes Wochenende mit einer polnischen Historikerin und anderen Referentinnen zu organisieren.

 

Und auch die Finanzierung wackelt.

In diesem Jahr 2002 tat sich noch ein weiteres Problem auf: Die Finanzierung wackelte, eine Fahrt musste ausfallen. Ein Vorschlag zur künftigen Aufteilung der Spendenwerbung unter den Mitgliedsorganisationen stieß bei der Mitgliederversammlung der Evangelischen Frauenhilfe in Deutschland auf wenig Gegenliebe. Die Vorsitzende einer Mitgliedsfrauenhilfe stellte sogar das ganze Projekt in Frage. „Was geht uns überhaupt dieses Kinderkrankenhaus an? Wir alle haben schließlich genügend eigene Projekte!“ Ihr empörter Satz hat sich mir tief eingeprägt.
Diejenigen, die schon länger im Warschau-Projekt aktiv waren, hielten die Luft an. In die ziemlich ungemütliche Stille hinein hielt Andrea Richter, die damalige, sonst eher leise auftretende leitende Pastorin des thüringischen Frauenwerks, aus dem Stand eine flammende Rede. Sie erinnerte an die Anfänge des Projekts in der DDR, an die kontinuierliche Weiterführung seit 1990 und an die Bedeutung dieser Einsätze im Krankenhaus.
Damit war die grundsätzliche Diskussion vom Tisch. Zugleich setzte ein interessanter Prozess ein: Den ostdeutschen Frauenhilfen und –werken wurde bewusst, dass sie sich schon lange aus dem Projekt zurückgezogen hatten. Noch am selben Abend beschlossen sie, das umgehend zu ändern. Das Frauenwerk der schlesischen Oberlausitz bot an, die Gruppen unmittelbar vor den Einsätzen zu einer Vorbereitung in Görlitz zu versammeln und dies auch zu organisieren und zu finanzieren3. Zudem übernahm 2006 Ilona Eisner vom thüringischen Frauenwerk für einige Jahre die Leitung. Und nicht zuletzt finanzierten die ostdeutschen Mitgliedsorganisationen von da an jedes Jahr die Kosten für eine Teilnehmerin an den Einsätzen und sorgten dafür, dass wieder Frauen aus den ostdeutschen Mitgliedsorganisationen teilnahmen.
Auch die damalige Finanzklemme löste sich, weil die Evangelischen Frauen in Württemberg mit einstiegen. Sie haben dort die schöne Einrichtung des „Solidaritäts-Euros“ – ein Euro pro Jahr und Mitglied, mit dem Projekte unterstützt werden. Und diesen Solidaritätseuro erhielt das Warschau-Projekt 2003.

 

Neu ausrichten angesagt

Bei der Fusion der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland und der Evangelischen Frauenhilfe in Deutschland zum neuen Dachverband Evangelische Frauen in Deutschland 2008 war unbestritten: „Das ist weiterhin unser Projekt.“ 2008 bis 2010 liefen die Einsätze weiter, aber neue Probleme machten Änderungen dringend erforderlich.
Da war einmal das zunehmende Alter der Teilnehmerinnen. Schwieriger wurde auch die Rückbindung der Teilnehmerinnen an die Mitgliedsorganisationen. Früher hatten die „ihre“ Frauen zu den Einsätzen in Warschau delegiert. Die hatten anschließend berichtet und waren als Multiplikatorinnen des Projekts aufgetreten. Jetzt fuhren immer öfter Frauen mit, die keinerlei Bindung an unsere Mitgliedsorganisationen hatten. Damit stellte sich die Frage, ob der erhebliche finanzielle und organisatorische Aufwand noch gerechtfertigt war.
Also fand 2011 kein Einsatz statt. Wir brauchten Zeit für eine Neuausrichtung. Zuständig dafür war unsere damalige Theologische Referentin Sophie Anca. Als erstes organisierten wir ein Treffen von Vertreterinnen der EFiD und der polnischen Partnerinnen in Rothenburg bei Görlitz. Geplant war ein Gedankenaustausch – aber es sollte keine konkreten Zusagen geben. Es war, wie immer, ein wunderbares Miteinander. Und wie immer entfaltete das Projekt auch hier seine eigene Dynamik. So stand am Ende die Zusage für ein neues Konzept – und für einen Einsatz im folgenden Jahr.
Sophie Anca brachte die Idee einer Zusammenarbeit Aktion Sühnezeichen (ASF)4 ein. Nach einer „Testfahrt“ einer kleinen Gruppe von Frauen aus der Verbandsleitung und aus Mitgliedsorganisationen nach Warschau im Sommer 2011 schlossen wir mit ASF einen Kooperationsvertrag für drei Jahre; am Ende wurden es vier.
Ab jetzt gab es eine Doppelleitung. Für uns übernahm das Sylvia Herche5 . Für ASF war das in den ersten beiden Jahren Nirit Neeman, eine jüdische Historikerin aus Israel. Die Hälfte der Teilnehmerinnen waren „unsere“ Frauen, die andere Hälfte, zum Teil sehr junge Frauen, kam über ASF. Damit änderte sich einiges bei der Ausrichtung der Einsätze. So rückte jetzt das jüdische Warschau wieder stärker in den Blick.
Und natürlich brachten diese jungen Frauen auch neue Sichtweisen ein. Unter anderem stand, wieder einmal, der Versöhnungsgedanke zur Debatte. Besonders heftig wurde diese Diskussion 2015 geführt, als für ASF als Leiterin Aleksandra Janowska mitfuhr, eine junge polnische Germanistikstudentin. Während des Aufenthalts der Gruppe in Warschau sollte ein Film über das Projekt, den der polnische Filmemacher Bogdan Lecznar in den beiden voraufgegangenen Jahren gedreht hatte, öffentlich gezeigt werden6. In diesem Film spielen die Motivation des „Schuld-Abtragens“ der deutschen Frauen und ihre Teilnahme an den Gedenkfeiern am 1. August, dem Jahrestag des Warschauer Aufstands, eine große Rolle. Beides lag den jungen Frauen eher fern, sie fanden sich mit ihrer eigenen Motivation – einen Beitrag zur europäischen Einigung zu leisten – darin nicht wieder. Die Gruppe beschloss daraufhin, den Film nicht öffentlich zu zeigen.

 

Irgendetwas wird weitergehen.

Die Kooperation mit ASF brachte frischen Wind ins Projekt, und die Einsätze liefen sehr gut. Doch der hohe organisatorische Aufwand und unser Problem, dass die Frauen nicht rückgebunden waren an eine Mitgliedsorganisation, blieben uns erhalten. Und so beschlossen wir, das Projekt nach Ablauf der Kooperationsvereinbarung mit ASF offiziell zu beenden. Das ist vielen sehr schwer gefallen – aber wir hielten einen guten, bewusst gestalteten Abschluss für die richtige Entscheidung. Denn eines wollten wir um jeden Preis vermeiden: es nach so vielen Jahren sang- und klanglos im Sande verlaufen zu lassen.
Wir haben 2015 noch einen guten Einsatz organisiert und sind dann mit einer kleinen Delegation des EFiD-Präsidiums und zwei Kolleginnen von ASF nach Warschau gefahren. Dort durften wir, zusammen mit den Teilnehmerinnen dieser Fahrt, eine beeindruckende Abschiedsveranstaltung erleben, die die Krankenhausleitung organisiert hatte.
Bei all der Wertschätzung und freundschaftlichen Verbundenheit, die uns dabei vom Kinderkrankenhaus und den evangelischen Kirchen in Polen entgegen kam, fiel es uns zugegebenermaßen schwer, nicht spontan zu sagen: „Ach, wisst Ihr was – vielleicht machen wir doch einfach weiter?“ Im Stillen tröstete ich mich mit dem Gedanken: Das Ende dieses Projekts ist ja nicht das Ende unserer über so viele Jahre gewachsenen Beziehung mit den polnischen evangelischen Kirchen und insbesondere mit den Frauen in diesen Kirchen. Und wie ich dieses unglaubliche Projekt kenne, wird irgendetwas schon weitergehen… – 2017, hat ASF es übrigens in sein Sommerlagerprogramm aufgenommen.
Im Rückblick finde ich: Die größte Leistung dieses Projektes – und das haben wir in Gesprächen oft gehört – ist es, dass es auch für die polnischen Kooperationspartner_innen eine wichtige Erfahrung war. Und auch ein ermutigender Impuls bei ihren Versuchen, auch Fragen von polnischer Schuld und Geschichte zu thematisieren. Und daher sagen wir mit Fug und Recht und, ja, auch Stolz: Wir haben tatsächlich etwas beigetragen zur deutsch-polnischen Versöhnung, zur Ökumene und damit, nicht zuletzt, auch zur europäischen Einigung.

 


 

  1. Der Polnische Ökumenische Rat (PÖR) ist der 1946 gegründete Zusammenschluss von evangelischen, orthodoxen und altkatholischen Kirchen, die in Polen Minderheitenkirchen sind gegenüber der katholischen Kirche.
  2. Konzeption der ökumenischen Arbeit der Evangelischen Frauenhilfe in Deutschland, 1998. Aktualisierung der Handlungsfelder 2001, Ergänzung der Konzeption (Passus „Versöhnung“) 2002 – jeweils beschlossen von der Jahreshauptversammlung
  3. Siehe auch: Text von Ilona Helena Eisner
  4. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. (ASF) – 1958 gegründeter Verein mit christlichen Wurzeln zur Versöhnung mit den von Deutschland im 2. Weltkrieg überfallenen Ländern und den Jüd_innen in aller Welt. Zur Geschichte von ASF siehe https://www.asf-ev.de/ueber-uns/geschichte/
  5. Siehe Text von Sylvia Herche
  6. Bogdan Lecznar, Dorota Petrus (Regisseure): Simply as a human being, Polnisch mit englischen Ut, 2014
Die Versöhner_innen.