Sylvia Herche

Die Beziehungen, die über vierzig Jahre gewachsen sind, sind ein Schatz, der auch in Zukunft genutzt werden sollte.

Zum Projekt „Kinderkrankenhaus Warschau“ bin ich 2010 durch meine Verbindung zum Verband Evangelische Frauen in Deutschland e.V. (EFiD) gekommen. Dort war ich Mitglied einer Arbeitsgruppe „Frauen und Alter“. Als die Arbeit dieser Gruppe zu Ende ging, wurde ich gefragt, ob ich einen Einsatz von Frauen im Kinderkrankenhaus leiten würde.
Ich sagte sofort zu. Denn eigentlich war ich schon seit Jahrzehnten mit diesem Thema beschäftigt. Als Theologiestudentin nahm ich an verschiedensten Einsätzen von Aktion Sühnezeichen1 teil – auch in Polen. So erfuhr ich damals von den Spendenaufrufen für das Kinderkrankenhaus und auch vom Einsatz von Jugendgruppen über Aktion Sühnezeichen in Warschau.
Schon damals wäre ich sehr gerne mitgefahren. Aber in meinem Lebenslauf begann gerade zu dieser Zeit mein Dienst als Pfarrerin, dann bekam ich Kinder, und irgendwie passte es nie, nach Warschau mitzufahren. Ich beobachtete aber von außen, wie es lief, zum Beispiel, dass ab 1988 auch Frauengruppen der Evangelischen Frauenhilfe zu Einsätzen fuhren. Und so kam es, dass ich bei der Anfrage von EFiD sofort Feuer und Flamme war.

 

Krisengipfel

Gerade zu dieser Zeit steckte das Projekt aber in einer Krise. EFiD hatte Mühe, genug Frauen für den Einsatz zu finden. Dabei lag der Fokus vor allem auf etwas jüngeren Frauen. Die Arbeit im und um das Krankenhaus herum ist in den zweiwöchigen Einsätzen anstrengend. Dazu kommt ein umfangreiches Nachmittagsprogramm. Für ältere bis alte Menschen ist das nicht unbedingt zu bewältigen – auch wenn die Begriffe „älter“ und „alt“ immer sehr relativ zu sehen sind.
Trotzdem war eindeutig eine Überalterung der Frauengruppen in den letzten Jahren zu beobachten. Es wurde daher entschieden, ein Jahr mit den Einsätzen auszusetzen. 2011 fuhr also keine Gruppe nach Warschau. Dafür trafen wir uns aber in einem kleinen Kreis mit unseren polnischen Partnerinnen, um zu überlegen, wie es in der Zukunft weitergehen sollte. Aus Deutschland fuhren Vertreterinnen des EFiD-Präsidiums und der Frauenarbeit aus verschiedenen Landeskirchen mit. Auf polnischer Seite waren unsere Koordinatorin vor Ort Halina Radacz sowie Vertreterinnen vom Krankenhaus und von der evangelischen Gemeinde dabei. Von polnischer Seite, insbesondere vom Krankenhaus wurde betont, wie sehr sie wünschen, dass die Einsätze weitergehen.
Während dieses Gesprächs wurde dann die Idee geboren, an die Anfänge des Projekts anzuknüpfen, und Aktion Sühnezeichen (ASF) anzufragen, ob sie sich eine Kooperation vorstellen könnten. Frau Bischatka von Aktion Sühnezeichen und Frau Papenheim von EFiD haben diese Kooperation anschließend ausgestaltet. Unter einer doppelten Leitung sollte die Gruppe sollte je zur Hälfte aus jungen Frauen von Aktion Sühnezeichen und Frauen von EFiD bestehen. Und der eine Teil der Leitung wurde dann ich.

 

Leitung im Duo

Auf der Sitzung in Warschau 2011 hatten wir versucht, ein Raster für den Ablauf der Einsätze – oder, wie es bei Aktion Sühnezeichen heißt, „Sommerlager“ – aufzustellen. Da flossen die Erfahrungen aus den vergangenen Jahren mit ein. Die Kontakte, die sich zu bestimmten Institutionen über Jahrzehnte ergeben hatten, nutzten wir natürlich auch.
Gleich im ersten Jahr war meine Co-Leiterin von Sühnezeichen die israelische Historikerin Nirit Neemann, die Nachfahrin von Holocaust-Überlebenden aus Polen ist. Da war es sehr deutlich, dass wir die christliche Ausrichtung des Programms ein bisschen zurückfahren würden, um anderen Aspekten, zum Beispiel der jüdischen Geschichte Warschaus, mehr Raum zu geben. Die Zusammenarbeit mit Nirit für die beiden Sommerlager 2012 und 2013, die wir gemeinsam verantwortet haben, war wunderbar konstruktiv. Unser Kennenlernen und die Vorbereitungen liefen vor allem via Skype. Außerdem trafen wir uns einen Tag vor dem offiziellen Beginn des Sommerlagers in Warschau. Auch während der zwei Wochen veränderten wir manchmal das Programm, um auf die Gruppe und aktuelle Wünsche einzugehen. Dieses flexible Miteinander funktionierte mit Nirit hervorragend, und das Programm war dann neben unserer Arbeit im Krankenhaus ausgesprochen vielfältig und anspruchsvoll.
2014 leitete ich die Gruppe allein, da die vorgesehene Teamerin von Sühnezeichen kurzfristig abgesagt hatte. Und 2015 wurde es noch einmal sehr spannend, weil meine Co-Leiterin Alexandra Janukowska war, eine polnische Studentin aus Berlin. Das war das Sommerlager, an dessen Ende auch das gesamte Projekt „Kinderkrankenhaus Warschau“ beendet wurde und in dem die Frage „Brauchen wir eigentlich noch Versöhnung zwischen Deutschen und Polen?“ eine große Rolle spielte. Doch dazu später mehr.

 

International, interreligiös und Generationen übergreifend

Die Zusammensetzung der Gruppen war immer Generationen übergreifend, interreligiös und international. Das war eine wunderbare Bereicherung. Einmal war eine Weißrussin mit dabei, einmal eine Tschechin, die in Deutschland lebte, einmal mehrere junge Frauen, deren Eltern aus Polen nach Deutschland gezogen und die zweisprachig aufgewachsen waren.
Neben den evangelischen Frauen gab es mal eine orthodoxe Christin, eine Katholikin oder auch ganz kirchenferne junge Frauen. Alexandra Janukowska brachte 2015 noch einmal ein ganz anderes Thema mit ein. Ihre Vorfahren wurden nämlich aus dem Gebiet der heutigen Ukraine in die schlesischen Gebiete vertrieben, wo sie in die Häuser der früheren deutschen Bewohner gewiesen wurden. Da waren der Verlust der Heimat und eine große Angst vor der Rückkehr der Deutschen ein Thema über viele Jahre hinweg.
In den ersten beiden Jahren veröffentlichten wir auf der Teilnehmerinnenliste immer auch das Geburtsdatum der einzelnen Frauen, das haben wir dann aber gelassen. Im Vorfeld machten sich nämlich doch die beiden vorherrschenden Altersgruppen – ganz junge Frauen und Frauen ab 60 Jahre ungefähr – Sorgen, ob sie mit den jeweils anderen auskommen würden. Es zeigte sich immer wieder, dass diese Vorbehalte unbegründet waren, und nach ein bis zwei Tagen das Alter keine Rolle mehr spielte.
Ab dem zweiten Jahr wurde es allerdings schwierig, die Teilnehmerinnen rechtzeitig zusammen zu bekommen. Gerade die jungen Frauen haben oft sehr kurzfristig ihre Pläne ändern müssen. So kam es auch, dass ich im dritten Jahr plötzlich mit einer kleinen Gruppe und als alleinige Leiterin da stand. Aber in jedem Jahr war es das Aufeinandertreffen verschiedenster Frauen, das von uns allen als Bereicherung empfunden wurde.
Die Motivation, mit ins Krankenhaus nach Warschau zu kommen, war bei den Frauen sehr unterschiedlich. Die älteren Frauen fuhren ganz explizit unter dem Thema „Versöhnung“ und hatten häufig den Hintergrund, dass ihre Väter im Krieg gewesen waren und darüber nie mit ihren Kindern gesprochen hatten. Sie fühlten sich in gewisser Weise auch „schuldig“ und wollten etwas gut machen. Bei den jüngeren Frauen spielte das Thema „Versöhnung“ kaum eine Rolle. Sie wollten das Land und die Leute kennenlernen und durch Begegnung Verständigung zwischen den Völkern schaffen. Natürlich fuhren zum Beispiel die jungen Frauen mit polnischen Eltern auch mit, um Polen über die familiäre Sicht hinaus kennenzulernen.
Aber die Frage, ob Versöhnung überhaupt noch nötig ist, beschäftigte uns, denn wir waren da nicht einer Meinung. Nachdenklich hat mich dabei auch gemacht, was wir bei einem Zeitzeugengespräch von einer alten Polin gehört haben. Sie sagte sinngemäß: „Ich will nicht Eure Tränen. Ihr sollt Euch nicht schuldig fühlen. Ihr seid Nachgeborene. Aber Ihr seid verantwortlich, dass so etwas nicht noch einmal passiert, und darum sollt Ihr wissen, was gewesen ist.“

 

Gern gesehene Helferinnen

Im Krankenhaus wurden wir am ersten Tag offiziell begrüßt. Es bestand während dieser vier Jahre die Möglichkeit, auf Station oder im Garten zu arbeiten. Die Grünanlagen im Krankenhauskomplex sind riesig, und die Pflege ist für das kleine Gartenteam kaum zu schaffen. Da waren wir gerade in der Urlaubszeit sehr willkommen.
Wer auf den Stationen arbeiten wollte, war vor allem für die Begleitung der Familien oder auch einzelner Kinder zuständig. In diesem besonderen Kinder-Gesundheits-Gedächtniszentrum wird viel Diagnostik mit modernsten Geräten durchgeführt. Es kommen Kinder aus ganz Polen. Dazu gibt es eine Rehabilitationsklinik, wo Kinder über längere Zeit behandelt werden. Weil der Krankenhauskomplex so weitläufig ist und mehrere Gebäude umfasst, war es immer gut, wenn auf den weiten Wegen Begleitung da war. Die Krankenschwestern konnten diesen Service nicht leisten, darum sind wir auf diesem Gebiet eingesetzt worden. Manchmal ergaben sich persönliche Kontakte zu Familien oder einzelnen Kindern. Aber Zeit, um mit den Kindern zu spielen oder anderweitig freie Zeit mit ihnen zu verbringen, war nicht. Das hatten sich manche der Frauen anders vorgestellt. Einige brachten im ersten Jahr kofferweise Kinderkleidung mit, um sie zu spenden. Das war nicht angebracht, und im zweiten Jahr haben wir das von vornherein gesagt.
Unsere Arbeitskolleginnen auf Zeit nahmen uns sehr freundlich auf. In den Pausen versuchten wir auch ins Gespräch zu kommen. Manchmal hatten wir ja Muttersprachlerinnen mit in unserer Gruppe, oder wir sprachen Englisch. Ansonsten halfen Hände und Füße. Das war ein sehr angenehmes Miteinander. Wir merkten auch die Wertschätzung, die uns und unserem Kommen entgegengebracht wurde. In einem Jahr war es zum Beispiel sehr heiß. Und plötzlich kam ein Mann zum Gartenteam und brachte Getränke. Wie ich dann feststellte, hatte er einen Getränkeladen im Kellergeschoss des Krankenhauses. Er fand unseren Einsatz so toll, dass er uns kostenlos mit Getränken versorgte.
Untergebracht waren wir in Einzelzimmern im Elternhotel des Krankenhausgeländes und wurden in der Kantine morgens und mittags verpflegt. Das Abendessen organisierten wir individuell. Oft trafen wir uns bei dem meist guten Wetter draußen bei einem Pavillon am Rande des Spielplatzes, um gemeinsam zu essen und den Tag ausklingen zu lassen.
An unserem letzten Arbeitstag wurden wir dann in einem festlichen Rahmen verabschiedet. Es gab in einem gesonderten Raum ein Mittagessen für uns. Von der Krankenhausleitung und unseren jeweiligen Leiterinnen der Abteilungen, in denen wir gearbeitet hatten, bekamen wir viel Dank, eine Urkunde und ein kleines Geschenk. Auch wir haben uns natürlich bedankt. Und so war das immer ein Abschluss, der uns zeigte, wie gern wir im Krankenhaus gesehen waren.

 

Geschichte und Geschichten erinnern

Nach der Arbeit gab es Mittagessen, und dann hatten wir meistens nur eine kurze Pause, um uns für das Nachmittagsprogramm fertig zu machen. Das Krankenhaus liegt ganz am Rande der Stadt, und der Bus fährt circa eine dreiviertel Stunde bis in die Innenstadt.

An einem der ersten Tage engagierten wir eine ASF-Freiwillige, die für ein Freiwilligenjahr in Warschau ist, für einen kleinen Polnisch-Unterricht und organisierten eine Altstadtführung. Das war für die eigene Orientierung gut, denn es gab ja auch Zeiten zur freien Verfügung.

1. August Warschauer Aufstand – Ein Schwerpunkt war der 1. August, an dem in der ganzen Stadt des Warschauer Aufstands von 19442 gedacht wird. An diesem Tag ist ganz Warschau auf den Beinen, mit weißen und roten Blumen und auch häufig in den Nationalfarben gekleidet oder mit einem weiß-roten Band in der Hand. Sie pilgern zum Friedhof, auf dem sehr viele Gefallene des Aufstands begraben liegen, und legen Blumen und Kerzen ab. Auf dem zentralen Gedenkplatz in der Stadt ist eine Bühne aufgebaut, auf der ein Chor und ein Orchester die Lieder des Warschauer Aufstands aufführen und alle Menschen auf dem Platz inbrünstig mitsingen. Zeitzeugen erzählen vom Aufstand, und auf einer großen Leinwand sieht man Fotos von 1944. Dieses kollektive vielfältige Gedenken hat uns Jahr für Jahr sehr berührt.
Wir haben zusammen ein Plakat gestaltet mit den Logos von Aktion Sühnezeichen und EFiD, dazu das Zeichen des Krankenhauses und unsere Namen. Das Plakat haben wir am Denkmal für den Aufstand abgelegt und Kerzen darauf gestellt.
Die Atmosphäre war für uns regelrecht erschütternd, vor allem, weil wir ja wussten, dass die Deutschen die Feinde waren, dass die Deutschen den Aufstand blutig niedergeschlagen und ganz Warschau in Schutt und Asche gelegt haben. Ich erinnere mich sehr deutlich an 2013, als die drei jungen Frauen dabei waren, deren Eltern aus Polen stammen. Sie waren sehr aufgewühlt. Und wir brauchten danach eine Auszeit für uns. Manche gingen in ein Café, andere setzten sich irgendwo abseits.
In einem Jahr sind wir auch im Museum für den Warschauer Aufstand gewesen. Der Besuch dort war sehr ambivalent für uns. Gerade die jungen Frauen waren entsetzt über die militärische Ausrichtung des Museums, und darüber, dass Unmengen von Waffen ausgestellt wurden und dazu ständig über Lautsprecher Kriegsgeräusche zu hören waren. Andere Frauen meinten, dass es uns gar nicht zusteht, diese Art des Gedenkens zu kritisieren.
Das Gedenken am 1. August war häufig der Tag, der uns emotional am meisten beschäftigte und über den wir viel gesprochen haben. In den beiden ersten Jahren begleitete uns bei diesem Programmpunkt auch ein Filmteam. Das hat es nicht gerade einfacher gemacht. Der Film behandelte zwar unseren gesamten Einsatz. Aber gerade in solch emotionalen Momenten hätten wir gern darauf verzichtet.

Jüdisches Warschau – Viele unserer Teilnehmerinnen hatten im Vorfeld den Wunsch geäußert, etwas über das jüdische Leben in Warschau zu erfahren. Diesem Wunsch sind wir selbstverständlich nachgekommen. Es war auch von unserer Seite ein Schwerpunkt.
Um die Organisation dieser Programmpunkte hat sich in den ersten beiden Jahren vor allem Nirit gekümmert. Sie stellte den Kontakt her zu einem deutschen Historiker, der im jüdisch-historischen Institut in Warschau arbeitete. Dadurch hatten wir eine höchst kompetente Führung durch das frühere jüdische Ghetto. Ab dem zweiten Jahr konnten wir auch ins neue jüdische Museum gehen, das neu eröffnet, aber noch nicht vollständig eingerichtet war.
Und wir konnten das jüdisch-historische Institut mit dem Ringelblum-Archiv besuchen. Dr. Jürgen Hensel hat uns dieses einzigartige Archiv gezeigt und uns seine Geschichte erzählt. Emanuel Ringelblum hatte während der Zeit der Okkupation Polens durch die Deutschen und im Ghetto unter Lebensgefahr ein Archiv angelegt, in dem er alles sammelte und katalogisierte, was an schriftlichem Material im Ghetto auftauchte. Er konnte dieses Material in Metallbehältern vergraben, und nach dem Krieg wurde ein Großteil des Materials wiedergefunden. Ringelblum selbst wurde 1944 mit seiner Familie von den Deutschen umgebracht. Es war für uns unglaublich interessant und bewegend, dieses Archiv anzuschauen.
Wir fanden aber auch einen Zugang zum heutigen jüdischen Leben in Warschau. Es gibt eine reformierte jüdische Gemeinde3 in Warschau, die mit allen, die möchten, den Sabbat feiert und danach zum gemeinsamen Essen einlädt. Einmal haben wir es geschafft, uns rechtzeitig anzumelden und haben einen wunderschönen Abend mit Menschen aus aller Welt in dieser Gemeinde erlebt.
Nirit hat in beiden Jahren einen Workshop durchgeführt. Es ging dabei um die Nachgeborenen der Holocaust-Überlebenden, wie sie selbst eine ist, und wie diese folgenden Generationen am Erbe ihrer Vorfahren zu tragen haben. Das waren beide Male aufwühlende Gespräche. Sie zeigte uns einen Film4 zu diesem Thema und wir sprachen dann darüber. Angesichts Nirits Familiengeschichte war es manchmal schwer auszuhalten, wenn es manchen von uns an Feinfühligkeit fehlte. Nirit mit ihrer von Deutschen ermordeten Familie und wir mit unseren Vätern und Großvätern, die als Soldaten der Wehrmacht auch in Polen waren – da prallten familiäre Hintergründe aufeinander. Und die Verharmlosung dessen, was die eigenen Vorfahren im 2. Weltkrieg als Besatzer getan haben – „Mein Vater hat nicht gekämpft. Der hat nur den Sold ausgezahlt.“ – war in diesem Zusammenhang völlig fehl am Platz. Da konnte die Stimmung auch kippen. Doch wir haben in Einzelgesprächen immer wieder einen Weg zueinander gefunden.

Evangelische Gemeinden – Jedes Jahr besuchten wir auch die evangelischen Gemeinden in Warschau: die evangelisch-lutherischen Gemeinden Trinitatis und Himmelfahrt und die reformierte Gemeinde. In jedem Jahr verbrachten wir in einer anderen Gemeinde einen Nachmittag mit polnischen Frauen. Das war immer ein Kaffeetrinken, zu dem alle interessierten Frauen aus allen drei Gemeinden zusammen kamen. Meist waren es hochbetagte Frauen, die auch Deutsch sprachen.
Wer von uns schon mehrmals in Warschau gewesen war, kannte einige von ihnen. So war das immer auch ein frohes Wiedersehen. Wir mischten uns an den einzelnen Tischen mit den Gastgeberinnen, und jedes Mal war es von neuem ein spannendes Kennenlernen und Erzählen.
In einem Jahr organisierten wir ein Erzählcafé in der evangelischen Gemeinde. Halina und ich bereiteten es vor. Je drei Frauen aus der Gemeinde und aus unserer Gruppe erzählten ausführlicher über ihr Leben. Das war ein sehr, sehr berührender Nachmittag. Viele tragische Erlebnisse aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und danach kamen zur Sprache. Das war oft schwer auszuhalten, zumal sich an dieser Stelle wieder die Frage stellte: Was haben unsere Väter und Großväter in Polen als Soldaten gemacht? Es ging aber auch um das Erleben von uns deutschen Frauen: die Vertreibung nach dem Krieg, das kaputte und geteilte Land. So erzählten wir uns gegenseitig unser Leben und vertieften dadurch unser Kennenlernen.
Nicht zuletzt durften wir auch die grandiose Gastfreundschaft der polnischen Frauen genießen. Mehrmals wurden wir von einzelnen Frauen in ihre Wohnungen eingeladen. Die ganze Gruppe. Zu zwölft besuchten wir die Frauen in ihren oft sehr kleinen Wohnungen und wurden prächtig bewirtet. Das war wunderbar. Und in einem Jahr war eine der polnischen alten Damen so begeistert von unseren jungen Frauen, dass sie sie spontan zum Eis-Essen ins beste Eiscafé der Stadt eingeladen hat.

Stiftung polnisch-deutsche Aussöhnung – Ein fester Punkt in unserem Programm war auch der Besuch der Stiftung polnisch-deutsche Aussöhnung. Über Aktion Sühnezeichen, die jedes Jahr eine Freiwillige in die Stiftung entsendet, bekamen wir Kontakt dorthin. Wir besuchten die Stiftung, entweder um uns bei einer Führung zu informieren oder auch zu den von der Stiftung organisierten Zeitzeugengesprächen.

 

Auch mal schön entspannen

Aber natürlich konnten wir uns nicht nur mit schwierigen Themen beschäftigen, sondern haben auch immer ein leichteres touristisches Programm gehabt. Ein besonderes Highlight waren die Sonntagnachmittage im Łazienki-Park, wo auf einer Bühne mitten im Park ein Flügel steht und Musik von Chopin gespielt wird. Dort herrschte eine besondere Atmosphäre, und wir genossen mit vielen Warschauern und anderen Gästen aller Generationen diese Stunden mit der wundervollen Musik.
Ich glaube, wir haben auch jedes Jahr das Café „Wedel“ aufgesucht, weil es dort exquisite Schokolade und Kuchen gibt. Der Firmengründer kam im 19. Jahrhundert aus Deutschland nach Warschau, baute dort eine Konditorei auf und heiratete in eine polnische Familie ein. Aus der Konditorei wurde eine bedeutende Schokoladenfabrik. 1945 schützten die polnischen Arbeiter und Arbeiterinnen die Fabrik vor der Zerstörung. Das ist bis heute ein Traditionscafé, obwohl es heute nicht mehr in deutscher und auch nicht polnischer Hand ist.

 

Niemals geht frau so ganz

Im Sommer 2015 endete mit unserem Einsatz das ganze Projekt. Die EFiD hatte nach langer Überlegung beschlossen, die Einsätze im Krankenhaus nicht fortzuführen. Das war einerseits für uns eine traurige Sache. Je länger wir bei unserem letzten Einsatz in den zwei Wochen zusammen waren und je näher der Abschied rückte, desto mehr tat es uns leid, dass es in den kommenden Jahren keine Einsätze im Kinderkrankenhaus mehr geben würde.
Andererseits erlebten wir eine wunderbare Abschiedsveranstaltung, bei der viele Weggefährtinnen und Weggefährten aus den vergangenen Jahrzehnten dabei waren. Die Krankenhausleitung betonte in berührender Weise, wie sehr sie unsere Einsätze wertgeschätzt hatte. Die Vertreterinnen der EFiD bekamen von den evangelischen Gemeinden einen großen gläsernen Engel geschenkt. Ach, es war einfach ein sehr gelungener Nachmittag!
Für mich und einige andere keimte an dieser Stelle der Gedanke auf, privat weiterhin den Kontakt zu halten und vielleicht später wieder solche oder ähnliche Einsätze in Warschau zu organisieren. Auch wird Aktion Sühnezeichen das Kinderkrankenhaus wieder ins Sommerlagerprogramm aufnehmen.
Die Beziehungen, die über vierzig Jahre gewachsen sind, sind ein Schatz, der auch in Zukunft genutzt werden sollte. Das wäre mein Wunsch.

 


 

  1. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. (ASF) – 1958 gegründeter Verein mit christlichen Wurzeln zur Versöhnung mit den von Deutschland im 2. Weltkrieg überfallenen Ländern und den Jüd_innen in aller Welt. Zur Geschichte von ASF siehe https://www.asf-ev.de/ueber-uns/geschichte/
  2. Aufstand der polnischen Heimatarmee gegen die deutschen Besatzer vom 1. 8. 1944. Der Aufstand dauerte 63 Tage und endete mit der Kapitulation der polnischen Armee, mit Massenmorden der Deutschen an der Zivilbevölkerung und der fast völligen Zerstörung Warschaus. (wikipedia, Stichwort „Warschauer Aufstand“, Zugriff am 14. 6. 2016)
  3. Beit Warszawa Synagoge, reformierte jüdische Gemeinde in Warschau – neben der eher orthodox ausgerichteten Gemeinde an der Nozyk-Synagoge (www.beit.org.pl)
  4. „Weil es ein Krieg war“ (Israel, 1988, hebräisch mit deutschem Untertitel)
Die Versöhner_innen.