Diese Frage habe ich mir tatsächlich gestellt, als ich mit dem Projekt des KGGZ vertraut wurde. Nach vier Monaten intensiver Auseinandersetzung auf jedem erdenklichen medialen Weg war die Antwort klar: alles.
Als ich im Februar 2018 begann, mich in das Projekt einzuarbeiten, war mir bei weitem nicht klar, welche Tragweite es für mich persönlich haben sollte. Bis dato hätte ich mich eher als durchschnittlich gut informiert beschrieben, was die deutsch-polnischen Beziehungen angeht. Nicht, weil es mich nicht interessierte. Im Gegenteil, und zwar aus Gründen, die tief in der Familie verankert waren: Als ich 1983 geboren wurde, war unser kleines Dorf noch immer gesplittet in zwei Bereiche – es gab den Dorfkern mit der katholischen Kirche, dem katholischen Kindergarten und den sehr katholischen Bürger_innen. Und es gab „die Siedlung“, einen guten Kilometer vom Dorfkern entfernt. Erbaut von den „Flüchtlingen“ des Zweiten Weltkriegs. Dort lebten wir. Evangelisch, versteht sich. Und das im Oldenburger Münsterland, der katholischen Hochburg.
Meine Oma mütterlicherseits kam aus Polen, mein Opa aus Königsberg, seinerzeit Ostpreußen. Über den Krieg, generell über die Vergangenheit wurde nicht gesprochen. Außer von meinem Uropa – von ihm dafür aber umso mehr. Bevorzugt mit mir. Für eine Fünfjährige waren das Geschichten, deren Ausmaße ich nicht wirklich verstand. Und auch, dass mein Opa die Erfahrungen, die er als Kind im Zweiten Weltkrieg machen musste, nie verarbeitet hatte, und sich letztendlich dazu entschloss, dem Ganzen ein Ende zu setzen, konnte ich als Kind nicht begreifen. „Wir wissen nicht, warum Opa so plötzlich gestorben ist“, hieß es in einem Ausdruck hilfloser Erklärung. Dass das einem Kind, das schon im Kindergartenalter alles verstehen wollte und erforschen musste, nicht reichen würde, liegt auf der Hand. Gesprochen wurde über den Freitod meines Opas trotzdem nie, und ich wagte es nicht, meine Mutter oder Oma weiter danach zu fragen. Oder auch nur nach meiner Herkunft zu fragen.
Und dennoch war da immer eine merkwürdige Angst vor dem Tod. Und später ein diffuses Gefühl von Rastlosigkeit. Das Gefühl, irgendwie anders zu sein. Irgendwie nicht gut zu sein, nicht dazu zu gehören.
Während meines Studiums und später als Designerin, Kunstaktivistin und Galeristin machte ich dieses Gefühl zu einer Art Markenzeichen und setzte damit das fort, was in der Familie vorgelebt wurde: Immer rastlos sein, nicht lange stehenbleiben, weitermachen, vorankommen. Ankommen? Fehlanzeige.
Aber die Fragen blieben, und die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft wurde immer dringlicher. Wie war das? Uropa kam woher? Und meine Uroma? Und warum waren sie nicht meine richtigen Urgroßeltern? Und mein Opa? Was hat er erlebt? Ich versuchte, in alten Fotos Antworten zu finden. Manchmal fragte ich meinen Vater. Aber auch er konnte mir nur Fragmente einer komplexen Familiengeschichte aufzeigen. Nicht geflüchtet, katholisch und in typischen Dorfstrukturen aufgewachsen, verstand er vielleicht auch nie so ganz das Gefüge dieser Familie? So anders war seine Familiengeschichte, so geordnet und geradlinig.
So vergaß, nein verdrängte ich das Thema immer wieder. Schließlich ist Erinnern mit Anstrengung verbunden. Erinnern kostet Zeit und Kraft. Und: Wer forscht, muss mit Widerständen rechnen, wer die Wahrheit sucht, mit Schmerz.
Aber manchmal ist es dann ja so: Solange man sucht und sucht und sucht, findet man nichts. Aber wenn man aufhört zu suchen, findet man auf einmal, wonach man gesucht hat. So ging es mir im Februar 2018. Was zunächst „nur“ ein Webprojekt war, wuchs in fünf Monaten für mich zu etwas heran, wofür „Herzensangelegenheit“ noch zu kurz greift. Das Projekt gab mir Mut zu fragen. Erneut zu fragen. Aber diesmal war etwas anders. War es die Zeit, die eben doch Wunden heilt, oder einfach der richtige Zeitpunkt? Oder beides zusammen? Erstmals bekam ich Antworten. Wurde gesprochen. Über Flucht, Krieg, Angst, Tod, Ausgeschlossensein, Stolz und Mut. Die Erinnerung half mir, erstmals zu verstehen. Zu verstehen, wer ich bin. Und das diffuse Gefühl wurde zu Klarheit. Und die Klarheit führte zu einem Gefühl des Ankommens, gegen das ich mich so lange gesträubt hatte. Dafür bin ich dankbar. Ich bin dankbar für meine Familie, für ihre Ambivalenz, den Schmerz, die Trauer, aber auch den Mut und den Stolz. Und ich bin dankbar, dass durch dieses Projekt all das für mich zu einem Ganzen geworden ist.
Ich denke, dass es vielen in meiner Generation ähnlich geht – einer der Gründe, warum das Thema Versöhnung auch heute noch aktuell ist. Diffuse Rastlosigkeit nehme ich auch in Gesprächen mit Menschen meines Alters immer wieder wahr. Verstehen bedeutet auch: sich selbst verstehen und sich mit sich selbst versöhnen. Erst dann können wir eine tragfähige Zukunft gestalten. Für uns selbst und dann auch auf gesellschaftlicher Ebene.
Erinnern. Verstehen. Versöhnen. – Ein Dreiklang, aus dem Zukunft gestaltet werden kann. Das ist es, was dieses Projekt für mich bedeutet.
Catharina Siemer
Zukunft gestalten bedeutet auch, Gedanken in Worte zu fassen, diese zu publizieren genauso wie Gedanken und Ideen in Taten umzusetzen. Ausgewählte Projekte zeigen die Relevanz der Thematik. Zum Weiterlesen, Eintauchen, sich inspirieren lassen – und um zu verstehen:
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DIALOG – Deutsch-Polnisches Magazin / Magazy Polsko-Niemiecki:
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Eine starke Kooperationspartnerin im Versöhnungsprojekt bis 1994. Von 2012 bis 2015 war ASF wieder mit im Boot, diesmal gemeinsam mit den Evangelischen Frauen in Deutschland. Und 2017 war das Kinderkrankenhaus Warschau wieder im ASF-Sommerlagerprogramm.