Mein Vater ist das beste Beispiel dafür, wie wichtig persönliche Kontakte zwischen Deutschen und Polen sind.
Ich hatte schon mehrere Jahre, bevor ich persönlich mit dem Projekt beschäftigt war, davon gehört und einige polnische und deutsche Frauen kennengelernt, die damit zu tun hatten. Zum einen organisierte ich mit Ursula Tschiersich aus Deutschland eine Reise von Frauen in mein damaliges Gemeindegebiet in den Masuren; dieselbe Ursula Tschiersich leitete 1991 die Frauengruppe im Kinderkrankenhaus Warschau und erzählte mir davon.
Zum anderen hatten wir in der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen 1991 ein Frauenforum gegründet. Dort traf ich Ewa Walter, die sich als Pfarrfrau an der evangelischen Trinitatisgemeinde in Warschau in der Betreuung der Frauengruppen aus Deutschland engagierte.
1998 wechselte ich nach Warschau. Ich begann meine Arbeit beim kirchlichen Fernsehen und in einer Gemeinde in der Nähe von Warschau. Zu dieser Zeit gab es in dem Versöhnungsprojekt der Evangelischen Frauenhilfe im KinderGedächtnisGesundheitsZentrum Warschau (KGGZ) große Probleme. Unser damaliger Bischof war um Vermittlung gebeten worden und zog mich mit hinzu. Er kannte mich als Leiterin der Frauenkommission in der Synode, außerdem war mittlerweile Ewa Walter erkrankt. So bat er mich darum, mich um die deutschen Frauengruppen zu kümmern.
Denn dort war die Lage so, dass die Frauengruppen vernachlässigt wurden und es wenig Akzeptanz für sie gab. Die meisten Mitarbeiter_innen im Krankenhaus wussten nicht, wer diese Frauen waren und warum sie gekommen waren. Nach dem politischen und wirtschaftlichen Umbruch in Polen 1989 hatte es auch im Krankenhaus viele Veränderungen gegeben. Darüber waren die Frauengruppen in Vergessenheit geraten. Was mich besonders aufregte, war, dass sie für ihre Unterkunft und die Verpflegung den vollen Satz bezahlen mussten, obwohl sie ihren Urlaub opferten und unentgeltlich arbeiteten. Außerdem hatte ich gehört, dass sie sich auch noch ihre eigenen Kartoffelschälmesser mitbringen oder kaufen mussten.
Nun hatten aber die Frauen in Deutschland Geld gesammelt und ein neues Ultraschallgerät für das Krankenhaus gekauft. Das nahmen Bischof Szarek und ich zum Anlass, einen offiziellen Termin im KGGZ zu vereinbaren, um das Gerät zu übergeben – und um ein Gespräch über die Situation zu führen.
Wir wurden vom Direktor Januszewicz und der leitenden Schwester Grazyńa Piegdon empfangen. Von diesem Gespräch an verbesserte sich die Situation. Die Frauengruppen gerieten wieder mehr in den Fokus der Krankenhausleitung. Neuerungen waren zum Beispiel die Namensschilder für die Frauen, der ermäßigte Satz für Unterkunft und Verpflegung, eine Erwähnung des Versöhnungseinsatzes in der krankenhausinternen Zeitung und – von den Frauen besonders begrüßt – die Möglichkeit, auf den Stationen mit den Kindern zu arbeiten.
In den folgenden Jahren erschien ich im Krankenhaus ausschließlich im Collarhemd1, um den offiziellen Charakter zu unterstreichen. Nach einigen Jahren konnte ich damit jedoch aufhören. Aber ich musste Jahr für Jahr verschiedenen Leuten, die im Krankenhaus mit den deutschen Frauen zu tun hatten, erklären: Was ist das für ein Projekt? Wer sind diese Frauen? Warum sind sie hier? Nehmen sie uns vielleicht Arbeitsplätze und Arbeit weg? Und so weiter und so fort. Die Aufklärungsarbeit war ganz wichtig.
Wir hatten einige feste Programm- und Anlaufpunkte, um Leute zu treffen. Das waren vor allem die beiden evangelisch-lutherischen Gemeinden in Warschau und die evangelisch-reformierte Gemeinde. Dort waren wir mehrmals in diesen zwei Wochen. Es gab immer ein Treffen mit Bischof Szarek und mit Andrzej Wójtowicz, dem Geschäftsführer des Polnischen Ökumenischen Rats. Interessant war, dass die Frauen jedes Jahr die Frauenordination ansprachen und ihr Unverständnis darüber zum Ausdruck brachten, dass Frauen in unserer Kirche nicht ordiniert werden. Dieses Engagement der Frauen, das ja auch mich persönlich betraf, tat mir gut.
Ein wichtiges Thema war das jüdische Leben in Warschau und Polen. Dazu trafen wir uns mit Dr. Jürgen Hensel vom Jüdischen Historischen Institut. Anfangs trafen wir uns mit ihm in seinem Institut und er hielt uns einen Vortrag; das war sehr interessant, aber meistens auch sehr ausführlich. Also trafen uns später mit ihm in der Stadt zu einer Führung durch das frühere Ghettogelände.
Ich organisierte auch ein Treffen mit den Mitarbeiterinnen von „La Strada“ – einem Projekt gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution. Mein Gedanke dabei war, dass für so eine Arbeit ein breites Netzwerk nötig ist und sich eventuell Kontakte nach Deutschland ergeben. Denn Menschenhandel und Zwangsprostitution sind ein europäisches Problem und nicht nur auf Polen begrenzt.
Ein anderer Programmpunkt war ein Treffen im Klub der katholischen Intelligenz2. Diese Treffen gab es schon vor meiner Zeit, und ich habe sie weiter organisiert.
Am Wochenende machten wir einen Ausflug. In den ersten Jahren fuhren die Frauen in eine KZ-Gedenkstätte – nach Majdanek oder Treblinka.
Es war ein sehr dichtes und anspruchsvolles Programm, in dem wenig Platz für Freizeit oder Sightseeing blieb. Im Laufe der Jahre veränderte sich das aber etwas; die offiziellen Termine wurden weniger, und es gab dafür mehr Freiraum.
Für mich persönlich war die Arbeit mit den deutschen Frauengruppen eine ganz wichtige Sache.
Ich komme aus einem Elternhaus, in dem Deutschland und den Deutschen viel Skepsis bis hin zu offener Ablehnung entgegengebracht wurde. Als ich in der Schule Deutsch lernen wollte, hat meine Mutter es mir untersagt. Meine Mutter und mein Vater haben schlimme Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg mit den Deutschen gemacht. Meine Mutter war als Zwangsarbeiterin in Deutschland – ihr Kriegskomplex ist zu verstehen.
Meine Mutter starb sehr früh. Aber für meinen Vater gab es dann ein Erlebnis, das sein Denken über Deutsche verändert hat. Er sang in einem Gemeindechor und war der einzige Bass. Dieser Chor wurde nach Deutschland eingeladen, und mein Vater sagte: „Nein, da fahre ich nicht mit. Nach Deutschland kriegt mich keiner.“ Ich habe lange auf ihn eingeredet. Schließlich hat ihn mein Argument, dass der Chor gar nicht singen kann, wenn er als Bassstimme fehlt, überzeugt. Er fuhr. Nach seiner Rückkehr fragte ich ihn: „Wie war es?“ Und was sagte er? „Weißt Du, Halina, nicht jeder Deutsche ist ein Nazi. Wirklich. Unglaublich! Ja, weißt Du, wie nett die Leute sind? Herzlich, nett, gastfreundlich. Ich hab das nie gewusst, ich habe das nie geglaubt.“
Mein Vater ist also das beste Beispiel dafür, wie wichtig persönliche Kontakte zwischen Deutschen und Polen sind.
Sehr beeindruckt hat mich an den deutschen Frauen, mit wie viel gutem Willen sie hierhergekommen sind. In den Gesprächen mit ihnen und auch in dem Film, der über das Projekt gedreht wurde, habe ich erfahren, dass sie die Schuld ihrer Väter und Großväter, die Soldaten im Zweiten Weltkrieg waren, mitgetragen haben und etwas wieder gut machen wollten3. In einem Jahr haben sie zum Tag des Warschauer Aufstands am 1. August ein Plakat gestaltet und es mit einer Kerze abgelegt – bei der einzigen Frau, die zwischen den vielen Männern auf dem Denkmal für den Aufstand dargestellt ist. Das hat mich sehr berührt.
Eine andere Geschichte hat mich auch sehr beeindruckt. Da stand ich am 1. August mit zwei polnischen Frauen und einer deutschen Frau aus der Gruppe vor dem Denkmal für den Warschauer Aufstand, und wir warteten auf die anderen Frauen. Wir unterhielten uns auf Deutsch. Da kam eine alte Dame vorbei und sagte sehr böse zu uns: „Was machen Sie hier? Als Deutsche? Sie haben kein Recht, hier zu sein.“ Eine von uns antwortete ihr dann auf Polnisch. Aber interessant war die Reaktion der deutschen Frau: Sie wurde weder nervös noch aggressiv. Sie hatte Verständnis für diese alte Frau.
Ich habe durch dieses Projekt so viele wunderbare, interessante Leute kennengelernt. Das war großartig. Und ich habe viel über Versöhnung gelernt.
Für unsere evangelische Kirche in ihrer Minderheitensituation in Polen war das Projekt auch eine sehr gute, öffentlichkeitswirksame Aktion. Wir haben es nicht leicht, Gehör zu finden. Mit diesem Projekt fiel uns das an einigen Stellen leichter.