Martin Herrbruck

Man hat den ganzen Krieg mitgemacht, danach hast du einfach so eine Vision oder Motivation gehabt: etwas zu tun, was verbindet. Was friedensschaffend wird.

1975 arbeitete ich beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR 1 in Berlin, im Ökumenischen Jugenddienst2. Ein Jahr später wurde innerhalb des Bundes eine Steuerungsgruppe „Kinderkrankenhaus Warschau“ unter Leitung von Oberkirchenrätin Christa Lewek 3 gegründet, in die ich berufen wurde

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Eine Idee nimmt Fahrt auf…

In der Steuerungsgruppe war auch Detlef Peter als Vertreter von Aktion Sühnezeichen. Wir beiden sollten uns um die geplanten Arbeitseinsätze kümmern – eine Idee von Frau Lewek, die über das Spenden von Geld hinaus persönliche Beziehungen schaffen wollte; bis dahin gab es nur die Zusage von Bischof Schönherr4 über Spenden in Höhe von 500.000 DDR-Mark.
Also wurden wir im Mai 1976 zu einer Erkundungsfahrt nach Warschau geschickt. Dort fanden wir eine große Baustelle vor. Wie sollten auf so einer Riesenbaustelle junge Leute für jeweils 14 Tage eine Aufgabe finden? Wo sollten sie untergebracht und wie verpflegt werden? Dabei waren diese praktischen Fragen erst der zweite Schritt, wie wir lernen sollten. Bei einem Gespräch mit der medizinischen Beraterin des Projekts und einem Mitprojektanten – vermittelt vom Polnischen Ökumenischen Rat5 – erfuhren wir auf unsere Frage hin, ob denn Aufbaueinsätze gewünscht seien: „Das ist eine politische Entscheidung. Das hat Minister Wieczorek, der Schirmherr des Krankenhauses zu entscheiden.“
Nach Konsultationen mit Frau Lewek gab der Minister grünes Licht. Es war schon etwas Besonderes, dass das polnische Innenministerium so gut mit dem Bund der Evangelischen Kirchen zusammengearbeitet hat. Genauso unkompliziert verliefen die Verhandlungen mit staatlichen Stellen in der DDR, um die Ausfuhr der Hilfsmittel nach Warschau zu organisieren. Der Zweck dieses Projekts – ein lebendiges Denkmal für die ermordeten Kinder zu schaffen – ließ die sonstigen Kämpfe gegen die Kirche in beiden Ländern ruhen. Übrigens kamen nur die Gruppen aus den Kirchen der DDR kontinuierlich Jahr für Jahr ins Krankenhaus. Alle anderen Versuche – zum Beispiel von der FDJ6 oder auch aus der Bundesrepublik Deutschland – verliefen im Sande.
Der Spendenaufruf an die Gemeinden in der DDR hatte ein ungeheures Echo. Erstmals wurde an der Basis ein Projekt in einem anderen Land in diesem Maße unterstützt. Das sprach viele Menschen in den Kirchgemeinden an. Es gingen sehr viel mehr Spenden ein als erwartet; sie wurden zum größten Teil für Einrichtungsgegenstände für das Krankenhaus verwendet.

 

Gräben schippen, Wege planieren


Unsere ersten beiden Durchgänge fanden im Sommer 1977 statt, einer unter der Leitung von Detlef Peter, einer unter meiner. Wir hatten eine sehr, sehr einfache Unterkunft gefunden – ein Wohnheim für Theologiestudenten auf halber Strecke zwischen Krankenhaus und Stadt. Für die Verpflegung waren wir selbst zuständig; darum hatten wir die Autos neben unserem Gepäck mit vielen Lebensmitteln bepackt.
Die Jugendlichen kamen aus allen acht Landeskirchen der DDR. Sie waren mindestens 18 Jahre alt und hoch motiviert. Eine einzige Gruppe hätten wir in all den Jahren gerne wieder nach Hause geschickt. Aber ansonsten war es ein großartiges Arbeiten und Leben mit den jungen Leuten. Sie waren gut vorbereitet aus ihren Jugendkonventen zu Hause gekommen und ließen sich auf harte Arbeit und ein anstrengendes Begleitprogramm ein.
Die Arbeit bestand bis 1979 aus Bau-Hilfsarbeiten: Gräben schippen, Wege planieren, Material transportieren. Gleich im ersten Jahr wurden wir einer Bewährungsprobe unterzogen. Wir hatten kaum angefangen, da kamen zwei mittelgroße Männer, Lederjacken und Jeans. „Mitkommen!“ Drei junge Männer und ich wurden auf die Ladefläche eines Kleinlasters geladen und bei der Fahrt schon einmal kräftig durchgeschüttelt. Schließlich landeten wir an der Rampe eines Güterbahnhofs, wo einige Container standen. Sie fuhren den Lieferwagen da ran und sagten: „Diese Container auf dieses Auto.“ Und weg waren sie. Aus einem Café gegenüber schauten sie zu, ob wir das hinkriegten.
Es gab keinen Kran oder irgendein anderes Hilfsmittel, nichts. Aber wir hatten pfiffige Leute dabei und wussten uns zu helfen. Von einer Baustelle nebenan haben wir uns lange Rohrstücke besorgt, die wir als Hebel benutzen konnten. Und so haben wir mit viel Mühe und Schweiß die Container auf den Lastwagen gehievt. Das brachte uns zwar kein Lob von unseren schweigsamen Auftraggebern ein, aber wir waren sehr zufrieden mit uns. Wenn es in Zukunft mal schwierig wurde, erging der Schlachtruf: „Diese Container auf dieses Auto!“ – und schon waren wir alle motiviert.

 

Vom Bau in Wäscherei, Küche und Garten

Ab 1979 veränderten sich unsere Einsätze. Das Krankenhaus war fertig7. Die Direktorin, Professorin Goncerzewicz, die unsere Gruppen von Anfang an ins Herz geschlossen hatte und sich ausnehmend gut mit Christa Lewek verstand, organisierte mit uns zusammen die Arbeit neu. Sie verlagerte sich vom Bau in Wäscherei, Küche und Garten des Kinderkrankenhauses. Ab jetzt konnten wir auch im Elterngästehaus auf dem Krankenhausgelände wohnen.
Außerdem hatte Frau Gonzercewicz an verschiedenen Stellen des Klinikgeländes Deutsch sprechende Mitarbeiter als Ansprechpartner für uns engagiert, die uns unterstützten, wenn es Probleme gab oder wir einfach nur eine Auskunft brauchten. Das war eine enorme Erleichterung.
Einer von ihnen war Chrystoph Kluczek, ein Ingenieur, der die Technik auf der Intensivstation betreute. Er hatte in Ilmenau studiert und sprach sehr gut Deutsch. Mit Chrystoph entwickelte sich über die Jahre eine enge Freundschaft. Er fühlte sich uns verbunden und war bald unser wichtigster Verbindungsmann im Krankenhaus. Einmal war unsere ganze Gruppe zur Taufe seiner Tochter eingeladen. Wir packten einen großen Korb mit Lebensmitteln und Blumen und feierten dort wunderbar mit seiner Familie die Taufe. Vor kurzem erzählte er mir, dass die Tochter, bei deren Taufe wir damals waren, ihr zweites Kind bekommen hat.
Sehr gut erinnere ich mich auch an eine andere Begegnung mit ihm – in der Zeit des Kriegsrechts in Polen8. Chrystoph Kluczek lud uns zu sich zum Abendbrot ein. Die Versorgungslage war zu dieser Zeit sehr angespannt. Da haben wir der Gruppe gesagt: „Leute, eine Schnitte, und dann guckt mal.“ Es gab zwei Teller mit Broten, und alle aßen vorsichtig. Chrystoph sagte, er habe Urlaub genommen und sei den ganzen Tag in Warschau herumgelaufen, um Bier zu besorgen. Zwei Flaschen hatte er bekommen, so kleine 0,25 l-Flaschen. Die wurden aufgemacht und herumgereicht. Da habe ich das Gegenstück zur biblischen Brotvermehrung erlebt: die Flaschen wurden nicht leer. Jeder setzte sie an und gab weiter, und sie wurden einfach nicht leer. Das hat mich sehr bewegt. Es war ein wunderbarer Abend.

Kriegsrecht in Polen – aber die Hilfseinsätze gehen weiter

Während des Kriegsrechts lagen alle anderen Aktivitäten zwischen dem BEK und den polnischen Partnern auf Eis. Aber unsere Sommer-Hilfseinsätze blieben. Anfang 1982 beauftragte Frau Lewek mich zu prüfen, unter welchen Bedingungen man die Grenze nach Polen überschreiten dürfe und wie man nach Warschau komme. Ich fuhr mit einem recht primitiven DIN-A4-Blatt vom Sekretariat für Kirchenfragen in der DDR zur Grenze. Auf dem Blatt stand, ich hätte in Polen zu tun. Alles ging glatt.
Ich bin mir nicht mehr sicher, warum ich dann noch eine zweite Versuchsfahrt starten musste – jedenfalls schickte mich Frau Lewek noch einmal mit dem Flugzeug nach Warschau. Auf dem Flughafen Schönefeld ließ man mich nicht durch. Ich telefonierte mit dem Büro und erhielt die Order, meinen Platz nicht zu verlassen, bis das Flugzeug gestartet sei. Plötzlich, kurz vor dem Start, wurde ich dann doch noch mit einem Auto über das Rollfeld zum Flieger gebracht. Das war wohl ein Machtkampf, der in diesem Fall zu unseren Gunsten ausging.
Nach diesen Erfahrungen beschlossen wir, die Fahrt mit der Gruppe im Sommer 1982 zu wagen. Wir fuhren mit drei Autos. Am Grenzübergang in Frankfurt/Oder sahen die Grenzer uns nur mitleidig an, sagten: „Keine Einreise!“ und ließen uns stehen. Wir traten mit unseren Papieren recht selbstbewusst auf. Dann hieß es plötzlich: „Warten Sie!“ Es verging eine Stunde und noch eine. Da holte meine Frau, die in diesem Jahr dabei war, eine Tischdecke und eine Tasche heraus und breitete auf dem Grünstreifen ein Picknick für uns aus. Das erheiterte alle um uns herum, einschließlich der Grenzer. Und endlich hieß es: „Sie können fahren.“
Der Aufenthalt war zwar von einer prekären Versorgungslage gekennzeichnet, ansonsten verlief aber fast alles wie immer. In den Straßen Warschaus patrouillierten, immer zu zweit, sogenannte „Sonderpolizisten“ mit Gummiknüppeln. Unsere Jugendlichen machten sich einen Spaß daraus, sie zu fotografieren und dann so schnell wie möglich im Gewühl zu verschwinden. Das war manchmal heikel, ihnen aber nicht auszutreiben.

 

Unter dem Versöhnungsgedanken

Die Idee von Aktion Sühnezeichen und dem Ökumenischen Jugenddienst war von Anfang an, mit den Völkern, die im Zweiten Weltkrieg unter den Deutschen gelitten hatten, wieder eine friedliche und völkerverständigende Beziehung zu schaffen. Zu unseren Arbeitseinsätzen gehörte darum immer ein Programm für die Nachmittage – zum Kennenlernen des Landes unter dem Versöhnungsgedanken.
Es war anfangs sehr schwierig, Begegnungen herzustellen. Der Polnische Ökumenische Rat, vor allem sein Geschäftsführer Andrzej Wójtowicz, halfen uns dabei. Herr Wójtowicz empfing auch immer die ganze Gruppe und hielt einen sehr interessanten Vortrag über die Geschichte Polens.
Vieles eroberten Detlef Peter und ich uns auch über eigene Kontakte. Nach einigen Jahren hatten wir ein exzellentes Programm zusammen. Wir gingen zum Beispiel in die frühere Wirkungsstätte des Paters Maximilian Kolbe nach Niepokalanów9 und hatten dort Führung und Gespräch mit einem Mitbruder Kolbes. Natürlich machten wir auch einen Stadtrundgang durch Warschau, zum Denkmal für den Warschauer Aufstand und ins frühere Ghetto. Einmal zeigte uns jemand den Ort aus dem Buch „Mila 18“ von Leon Uris von 1961 – eine Straße mit Hausnummer. Das Buch erzählt vom Aufstand im Warschauer Ghetto.
Im Łazienki-Park, beim Chopin-Denkmal, hörten wir die sonntäglichen Open-Air-Klavierkonzerte, vom Kulturpalast aus konnten wir einen Blick über die Stadt werfen. Und auch die Kontakte zur evangelischen Gemeinde intensivierten sich.
Natürlich haben wir nicht das gesamte Programm über die Köpfe der Jugendlichen hinweg geplant. Wir trafen uns jeden Tag in der Gruppe, um für den nächsten Tag zu planen. Manches lief dann auch anders als gedacht. Aber grundsätzlich waren die Jugendlichen froh, wenn wir Ideen für die Nachmittage hatten. Häufig bekam ich im Nachhinein von den Jugendlichen selbst oder auch von deren Eltern sehr positive Rückmeldungen. Die Einsätze in Polen veränderten manch einen der jungen Menschen zum Positiven.
In einem Jahr brachte eine junge Frau ihren Freund mit. Der junge Mann war sehr engagiert, wollte aber nach der Hälfte der Zeit ein Gespräch mit mir unter vier Augen. Da gestand er mir: „Ich bin Genosse.“10 Das war anscheinend für ihn schwieriger als für mich. Er war durch seine Freundin in diese kirchliche Gruppe gekommen und fühlte sich offensichtlich unwohl, wenn er nicht mit offenen Karten spielte. Er blieb den ganzen Einsatz über dabei, später habe ich ihn sogar noch einmal in Berlin besucht.

Ab jetzt auch mit erwachsenen Frauen

1983 erhielt ich einen Brief von einer Frau aus Thüringen. Sie habe von den Arbeitseinsätzen in Warschau gehört und möchte sehr, sehr gerne mitfahren. Ob das möglich wäre, auch wenn sie nicht mehr im entsprechenden Alter sei?
Mir ist noch der Satz in Erinnerung: „Meine Tochter sagt, von hinten und von der Seite sehe ich noch ganz jugendlich aus.“ Ich habe hin und her überlegt. Ob sie in eine Gruppe von Jugendlichen passen würde? Und ob die einfache Unterkunft und die Arbeit wohl etwas für Erwachsene wären? Andererseits fand ich die Idee eigentlich sehr gut, denn dadurch würden vielleicht auch noch andere auf das Projekt „Kinderkrankenhaus“ aufmerksam. Und so schrieb ich ihr eine Zusage. Nach dem Warschau-Einsatz, den ich 1983 nicht selbst begleitet hatte, schrieb sie mir einen begeisterten Brief.
1986 bin ich aus der Jugendarbeit ausgestiegen, war aber natürlich weiterhin interessiert an Warschau und dem Kinderkrankenhaus. Als ich hörte, dass die Frauenhilfe mit eigenen Frauengruppen nach Warschau fährt, dachte ich: „Na so was – da ist wohl etwas angestoßen worden.“ Das hat mich wirklich sehr gefreut.

  1. Der Bund der Evangelischen Kirchen (BEK) war der Zusammenschluss der acht auf dem Gebiet der DDR existierenden evangelischen Landeskirchen, die durch eine Synode und die Konferenz der Kirchenleitungen geleitet wurde.
  2. Der Ökumenische Jugenddienst war eine beim BEK angesiedelte Dienststelle, die für die Aufbaulager mit internationaler Beteiligung in der DDR zuständig war.
  3. Christa Lewek (1927-2008) war von 1969 bis 1988 Referentin für „Kirche und Gesellschaft“ im Sekretariat des BEK.
  4. Albrecht Schönherr (1911-2009) war von 1969 bis 1981 Vorsitzender des BEK.
  5. Der Polnische Ökumenische Rat (PÖR) ist der 1946 gegründete Zusammenschluss von evangelischen, orthodoxen und altkatholischen Kirchen, die in Polen Minderheitenkirchen sind gegenüber der katholischen Kirche.
  6. Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) war die einzige staatlich zugelassene und geförderte Jugendorganisation in der DDR.
  7. Das „Gesundheitszentrum des Kindes“ wurde offiziell am 1. Juni 1979 eingeweiht.
  8. Von 1981 bis 1983 galt das Kriegsrecht in Polen. Es war verhängt worden als Antwort auf die Unruhen in der Bevölkerung aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage und der 1980 gegründeten unabhängigen Gewerkschaft Solidarność. Während des Kriegsrechts gab es Tote, ca. 13000 Internierte, Hundertausende emigrierten. Die Wirtschaftslage verschlechterte sich weiter. Die Lage war äußerst angespannt. (www.wikipedia.de/Kriegsrecht in Polen 1981-1983. Zugriff 14.04.2016)
  9. Niepokalanów ist Teil des Dorfes Paprotnia in der Gemeinde Teresin in Polen. Niepokalanów liegt etwa 40 km westlich von Warschau. Es wurde von dem Franziskaner-Minoriten Maximilian Kolbe für missionarische Zwecke gegründet. (www.wikipedia.de/Niepokalanow. Zugriff 14.04.2016)
  10. Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei (SED) in der DDR
Die Versöhner_innen.