Dass wir an das anknüpften, was die Jugendgruppen aufgebaut hatten, war ein gutes Gefühl.
Ich gehöre noch zu den Jahrgängen, bei denen es üblich war, dass Frauen – trotz ihrer Ausbildung, in meinem Fall zur Gemeindehelferin am Burckhardthaus – ihren Beruf nicht ausübten, wenn sie heirateten und ihr Mann ein Pfarrer war. Die Landeskirche stellte mich einfach nicht ein, erwartete aber meine Mitarbeit in der Gemeinde meines Mannes. So selbstverständlich wie es von der Landeskirche aus gesehen wurde, sahen auch wir es.
Erst als ich 1986 nach Dresden zog, weil mein Mann hier eine Stelle erhielt, und meine Kinder groß waren, erwog ich, mir eine Anstellung zu suchen. Die Zeiten hatten sich geändert – auch für Pfarrfrauen.
Eines Tages sprach mich eine Frau aus dem Beirat der sächsischen Frauenarbeit an: Die Stelle der Landesleiterin würde vakant werden, und ob ich mich nicht auf diese Stelle bewerben möchte. Ich hatte noch nie offiziell etwas mit der Frauenarbeit zu tun gehabt und war dementsprechend unsicher, bewarb mich aber trotzdem. Zu meiner eigenen Überraschung wurde ich gewählt 1. Neben dem Landespastor für Frauenarbeit war die Landesleiterin als Geschäftsführerin für die Frauenarbeit in Sachsen zuständig. Meine Kompetenz in den verschiedenen Arbeitsfeldern musste ich mir erst allmählich erwerben.
Zu dieser Arbeit gehörte natürlich auch die Teilnahme an den Jahreskonferenzen der Evangelischen Frauenhilfen und der Frauenarbeit in der DDR. Auch dort fühlte ich mich lange Zeit nicht sehr kompetent. Auf einer meiner ersten Sitzungen ging es um das Projekt „Kinderkrankenhaus Warschau“. Nachdem in den letzten Jahren Jugendgruppen zu Arbeitseinsätzen im Sommer nach Warschau gefahren waren, sollte 1987 erstmals eine Frauengruppe fahren.
Aus unseren Reihen wurde eine Leiterin gesucht. Ich meldete mich dafür aus zwei Gründen. Zum einen empfand ich so einen Arbeitseinsatz und überhaupt einen Aufenthalt in Warschau unter dem Versöhnungsgedanken als sehr sinnvoll. Zum anderen wollte ich mich auch auf dieser Ebene einbringen, fühlte mich aber auf allen anderen Gebieten noch viel zu unsicher. Aber eine Gruppe für zwei Wochen in Warschau zu leiten, traute ich mir zu. Von dem Projekt selbst hatte ich vorher noch nichts gehört; die Spendenaktionen der vergangenen Jahre müssen an mir vorüber gegangen sein.
Es gab dann leider kaum eine Vorbereitung auf den Einsatz für mich als Leiterin. Ich erinnere mich an kein Treffen mit Aktion Sühnezeichen zum Beispiel oder mit anderen, die schon einmal dort waren. Die Organisation des Einsatzes – Wie fahren wir hin? Wo sind wir untergebracht? Wie werden wir verpflegt? Wer besorgt die Einreisegenehmigungen? – machten andere für uns. Damit hatte ich gar nichts zu tun. Auch die Organisation in Warschau lief im Vorfeld ohne mich ab. Von heute aus gesehen, kommt es mir merkwürdig vor, dass ich damals so wenig in die Vorbereitung involviert war.
Ich weiß noch, dass es schwierig war, genug Frauen für eine Gruppe zusammen zu bekommen. Und das wiederholte sich auch im kommenden Jahr, als ich die Gruppe noch einmal leitete. Ich glaube, es lag daran, dass sich viele Frauen nicht zutrauten, im Urlaub zwei Wochen ohne ihre Familie weg zu sein. Außerdem gab es auch eine Scheu, ins Ausland zu gehen, wo man sich nicht so einfach verständigen konnte. Wir waren als DDR-Bürger nicht darin geübt, uns im Ausland zu bewegen.
Die Gruppe traf sich am Tag vor der Abreise in Berlin und lernte sich dort kennen. Es gab eine kurze Einweisung, und am nächsten Morgen fuhren wir mit einem Kleinbus nach Warschau, wobei ich mich nicht mal mehr erinnern kann, wer den Bus gefahren hat.
Die Gruppe war altersmäßig sehr gemischt: die Jüngste war 22 Jahre alt, die Älteste 51. Eine Frau war in der Gruppe, die schon auf anderen Ebenen Kontakte nach Polen hatte und auch polnisch sprach. Das war einerseits sehr hilfreich, andererseits wollte sie ihre Kontakte auch während unserer Fahrt pflegen, ohne die Gruppe mit einzubeziehen. Das empfand ich als schwierig. Auch im zweiten Jahr war sie wieder mit und das Prozedere wiederholte sich. Das war schade für die Gruppe, trübte aber nicht die Stimmung. Im zweiten Jahr war der Altersdurchschnitt ähnlich wie 1987, aber es gab einige Krankenschwestern unter den Mitfahrenden. Ich weiß nicht, ob sie sich erhofft hatten, im Krankenhaus auf Station arbeiten zu können? Aber das war von vornherein klar, dass das nicht möglich ist. Unsere Einsatzorte waren der Garten, die Wäscherei und die Küche.
Als wir in Warschau ankamen, wurden wir offiziell begrüßt und dann auf die Arbeitsorte verteilt. Es gab eine Deutsch sprechende Apothekerin im Krankenhaus, die unsere Ansprechpartnerin war und sehr engagiert sich um uns gekümmert hat.
Wir wurden an unseren jeweiligen Einsatzorten durch die Mitarbeiter_innen dort sehr offen empfangen. Und wir hatten auch den Eindruck, dass unsere Arbeitskraft gebraucht wurde. Ich habe im Garten gearbeitet. Das Krankenhausgelände ist ja ein riesiger Komplex mit unendlich vielen Grünanlagen, die alle gepflegt werden müssen. Da war es ganz offensichtlich, dass jede Hand gebraucht wurde.
Schnell entstanden auch Kontakte zu den Mitarbeiter_innen. Der ganze Umgang miteinander war ausgesprochen unkompliziert. Mehrfach wurden einige von uns zu ihnen nach Hause eingeladen. Auch ich hatte mich mit einer jungen Frau aus der Gärtnerei angefreundet, zu der ich sogar nach den Einsätzen noch Kontakt hatte. Sie wohnte mir ihren Eltern und ihrem erwachsenen Bruder in einer Plattenbauwohnung. Das war ein ganz herzlicher Empfang dort.
Wir merkten natürlich im Krankenhaus auch, dass wir an das anknüpften, was die Jugendgruppen aufgebaut hatten, dass wir in einer Tradition standen. Und das war ein gutes Gefühl.
Untergebracht waren wir in Zwei-Bett-Zimmern im Gästehaus des Krankenhauses. In der Kantine wurden wir voll verpflegt. Unser gesamter Aufenthalt wurde bezahlt, nur unsere persönliche Anreise nach Berlin zahlten wir selbst. Fast alle von uns hatten für diesen Einsatz zwei Wochen ihres Urlaubs genommen.
Wir gestalteten als Gruppe für uns jeden Morgen eine Andacht und gingen danach gemeinsam frühstücken. Dort besprachen wir dann den Tag, vor allem wie die Nachmittags- und Abendgestaltung aussehen sollte. Außer an den freien Nachmittagen gingen wir immer mit der ganzen Gruppe zu den verschiedenen Aktivitäten am Nachmittag. So hatten wir auch viel Zeit miteinander und konnten als Gruppe gut zusammenwachsen.
Am Nachmittag gab es die verschiedensten Unternehmungen und Begegnungen. Dabei griffen wir auf Kontakte und Ideen zurück, die Aktion Sühnezeichen und der Ökumenische Jugenddienst in den vergangenen Jahren aufgebaut und umgesetzt hatten.
Gleich am ersten Sonntag waren wir in der evangelischen Trinitatisgemeinde eingeladen, erst zum Gottesdienst und danach zu einer sehr netten Begegnung mit Frauen der Gemeinde. Eva Walter begrüßte uns dort, die Frau des Pastors. Wir fuhren auch nach Lublin, wo es eine sehr kleine evangelische Gemeinde mit nur 40 Mitgliedern gab, die sich sehr über unseren Besuch freuten. Wir wurden dort von Frau Sylvia Irga empfangen, die als Laienbeauftragte die Gemeinde betreute. In meinem Abschlussbericht regte ich für kommende Gruppen an, diesen Kontakt zu intensivieren 2.
Am Rande von Warschau liegt das von der evangelischen Kirche betriebene Altersheim „Tabitha“, das wir besichtigten und wo wir Bewohnern und Mitarbeiterinnen begegneten. Wir verbrachten dort einen Nachmittag bei Kaffee und Kuchen. Aus unserem Kreis hatte sich eine Flötengruppe gebildet, die einige Stücke spielte. Bei „Geh aus, mein Herz und suche Freud“ stimmten einige Bewohner auf Deutsch in das Lied von Paul Gerhardt mit ein.
An einem anderen Nachmittag besuchten wir eine andere soziale Einrichtung: eine von katholischen Nonnen geführte zentrale Blindenanstalt in Laski bei Warschau. Dort erhielten wir eine ausführliche Führung und einen Eindruck vom Engagement der Nonnen und ihrem Gottvertrauen. Auf unsere Frage, wie diese Einrichtung finanziert wird, antwortete unsere Führerin: „Ein Teil kommt vom Staat, ein Teil von Spenden und ein Teil vom lieben Gott.“
Die Beschäftigung mit der polnischen Geschichte des zweiten Weltkriegs war ein weiterer Schwerpunkt. Wir besuchten das frühere jüdische Ghetto und die zentralen Gedenkstätten. Besonders tiefe Spuren hinterließ der Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Majdanek. Ich erinnere mich, dass in einem Jahr eine Frau nicht mitkommen wollte dorthin. Sie fürchtete sich davor. Da ich es doch wichtig fand, dass wir als ganze Gruppe fahren, habe ich ihr das Angebot gemacht, dass sie jederzeit gehen kann, wenn es ihr zu viel wird und die Gruppe sie auch begleitet. Dieses Angebot hat sie angenommen. Natürlich war es ein schwieriger und bedrückender Nachmittag, der noch lange nachgeklungen ist.
Daneben gab es aber auch Nachmittage, in denen wir uns gemeinsam oder einzeln die wunderschöne Altstadt von Warschau angeschaut haben. Auch waren wir in Żelozowa Wola, dem Geburtsort von Frederic Chopin und besichtigten dort das Museum und den Park. Im Park konnte man sich auf eine Bank setzen und Klavierkonzerten von Chopin lauschen, die über Lautsprecher übertragen wurden. Das haben wir sehr genossen.
Sehr interessant und beeindruckend war unser Besuch in der Warschauer Kostka-Kirche, in der Pater Popiełuszko 3 gearbeitet hatte. Besonders in letzterer Kirche ist uns die jüngere Geschichte Polens nahe gekommen. Die Bedeutung der Gewerkschaft Solidarność verstanden wir dort sehr genau. Die Kirche war zu einem Wallfahrtsort geworden für den von der Geheimpolizei ermordeten Pater und wir spürten die Ergriffenheit der Menschen, die dort beteten. Es war in meiner Wahrnehmung ein sehr zentraler Ort für die Polen. Die ganze äußere Form und Gestaltung in dieser katholischen Kirche war uns zwar fremd, gleichzeitig auch wieder nah und ergreifend.
Im Franziskaner-Minoriten-Kloster von Maximilian Kolbe4erfuhren wir, wie wichtig so ein Wallfahrtsort für die polnische Bevölkerung ist. Dort in Niepokalanów gab es viele ausländische Besucher wie uns, die das Museum besuchten. Es gibt dort neben der Darstellung des Lebens und Sterbens von Maximilian Kolbe sein sehr bekanntes Figurenpanoramabild zur Geschichte Polens. Ein sehr gut gelaunter Pater erzählte uns auch von der berühmten Freiwilligen Feuerwehr der Ordensleute, die schon viele staatliche Auszeichnungen erhalten hatte. In diesem Kloster lebten, als wir da waren, bis zu 200 Mönche.
Wenn ich mich richtig erinnere, war es für alle Frauen, die mitkamen, ein Herzensanliegen, partnerschaftliche, persönliche Beziehungen zu Polen aufzubauen. In den Kirchgemeinden der DDR war das ja auch ein Thema, und dass die Kirche für die Versöhnung mit unseren Nachbarländern etwas tun sollte, war für alle klar. Die Frauen sind mit einer großen Bereitschaft gekommen, sich auf die Arbeit und auf die polnischen Gastgeber einzulassen. Da habe ich beide Gruppen auch sehr homogen erlebt. Es war ebenfalls klar, dass die Frauen nach dem Einsatz in ihren Gemeinden davon berichten würden.
Für mich persönlich haben die beiden Einsätze mein Bild von Polen geprägt, da ich privat noch nicht dorthin gefahren war und ein über das Touristische hinausgehendes Bild von Polen erhielt.
Vor allem durch die persönlichen Begegnungen mit den Frauen, mit denen wir zusammen arbeiteten, habe ich auch gefühlsmäßig einen Faden nach Polen gefunden. Ich kannte vorher keine Polen persönlich. Besonders haben mich die Gastfreundschaft und die Offenheit der Polen uns gegenüber beeindruckt. Mein sehr positives Polenbild bis heute verdanke ich diesen beiden Reisen 1987 und 1988. Ich bin sehr dankbar, dass es möglich war, auf diese Weise das Land kennenzulernen.