Ich bin sehr dankbar, dass ich die Chance hatte, so wunderbare Menschen kennenzulernen.
Für mich waren die Einsätze im Kinderkrankenhaus in Warschau etwas ganz Besonderes, das mein Leben nachhaltig beeinflusst hat. Von 1996 bis 2001 bin ich jedes Jahr mitgefahren. Eigentlich wäre ich sogar schon 1995 gerne gefahren, aber da habe ich mich zu spät entschlossen, und alle Plätze waren besetzt.
Ich hatte das dringende Bedürfnis, an diesen Einsätzen teilzunehmen – das wurde mir schon klar, als ich das erste Mal etwas darüber in der Zeitschrift „Publik Forum“ gelesen hatte.
Das hat auch etwas mit meinem familiären Hintergrund zu tun. Ich lebte von 1942 bis 1944 mit meinen Eltern in der Nähe des damaligen Premissel, dem heutigen Przemysl, wo mein Vater Güterdirektor war. Er beschäftigte polnische Arbeitskräfte, und auch bei uns im Haus hatten wir polnisches Personal. Meine Eltern behandelten sie gut und spielten sich nicht als Besatzer auf. Meine Mutter gründete einen Kindergarten. Es sprach sich wohl herum, dass meine Eltern keinem etwas antun wollten. So konnte mein Vater ungehindert durch von Partisanen besetztes Gebiet fahren und reiten, wenn er auf andere Güter musste.
Aber ich weiß natürlich, dass um uns herum und überhaupt in Polen sehr viel Unrecht an der polnischen Bevölkerung verübt wurde. Ich hatte irgendwie das Gefühl, ich könnte durch mein Arbeiten in Warschau etwas wieder gutmachen. Außerdem konnte ich auf diesem Weg wieder einmal nach Polen – nicht als Touristin, sondern mit Kontakten zu vielen Einheimischen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Eltern mehr, die ich über diese Zeit befragen konnte, aber noch viele ihrer Erzählungen im Ohr. So war es für mich etwas ganz Bewegendes, als wir einen Ausflug nach Krakau machten, wovon meine Mutter immer geschwärmt hatte und wo ich selbst vorher nie gewesen war.
Ein anderer Aspekt, den ich hier noch erwähnen möchte, ist: Ich hatte vorher nie ganz allein etwas in dieser Größenordnung unternommen. Ich war Hausfrau mit drei Kindern und auf verschiedenen Ebenen ehrenamtlich engagiert. Dass ich für diese Reisen Haus, Hof und Familie alleine gelassen habe und mich getraut habe, in einer mir fremden Gruppe zwei Wochen zu verbringen, war schon ein Abenteuer für mich. Von heute aus gesehen mag das komisch wirken, aber in meiner Generation haben Frauen so etwas eigentlich nicht getan. Insofern habe ich mit diesen Einsätzen auch viel für mein eigenes Selbstbewusstsein getan.
Wir trafen uns als Gruppe im Zug nach Warschau und lernten uns dort schon etwas kennen. Erstaunlicherweise harmonierten wir in unseren 12er-Guppen meistens sehr gut, obwohl wir uns am Anfang immer fremd waren. Natürlich ist jede von uns Kompromisse eingegangen, aber wir wurden alle belohnt mit der Bekanntschaft interessanter Frauen, die wir sonst nicht kennengelernt hätten.
In den letzten Jahren meiner Fahrten nach Warschau habe ich mit Hildegard Haarbeck gemeinsam die Leitung der Gruppe übernommen. Frau Haarbeck hatte die Federführung, aber wir haben gemeinsam das Programm geplant, überlegt, welches Geschenk wir mit zu unseren Gastgebern nehmen und so weiter. Dadurch bin ich auch sehr intensiv mit der Gruppe verbunden gewesen.
Das Kinderkrankenhaus liegt ganz am Rande der Stadt. Wir wohnten in Zwei-Bett-Zimmern im Elternhotel des Krankenhauses. Frühstück und Mittag aßen wir in der Kantine. Zwischen diesen beiden Mahlzeiten arbeiteten wir vier Stunden. Einige von uns in der Wäscherei, da war ich aber nicht dabei.
In den ersten Jahren arbeitete ich in der Gärtnerei und einmal auch in der Küche. Wir kamen ja im Sommer, also in der Urlaubszeit, und waren ein wenig die Urlaubsvertretung. Andererseits bekamen wir auch Arbeiten zugewiesen, zu denen man sonst nicht kam. Es waren in dem Sinne keine „schönen“ Arbeiten – aber sie mussten ja gemacht werden.
Wir haben Unmengen an Unkraut gejätet. Ich erinnere mich, dass wir einmal auch das Unkraut zwischen den Gehwegplatten vor dem Krankenhaus herauspulten, während ständig Menschen an uns vorbeiliefen. Und da das Krankenhaus ein sehr großer Komplex mit mehreren Gebäuden ist, waren auch die dazugehörigen Gehwege endlos lang. Ein andermal mussten wir die Fahrstühle säubern – von alten angeklebten Kaugummis bis zu Malereien an der Wand. In der Küche schnippelten wir den ganzen Vormittag Gemüse. In den riesigen Kesseln wurden dort ungeheure Mengen an Essen gekocht.
In diesen ersten Jahren wurden wir von den Mitarbeiterinnen des Krankenhauses mit sehr viel Argwohn betrachtet. Niemand hatte die Belegschaft darüber aufgeklärt, wer wir sind, warum wir da sind und dass wir unentgeltlich arbeiten. Sie befürchteten, wie wir später hörten, dass wir ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen könnten. Dann wechselte aber die Krankenhausleitung, und es gab ein klärendes Gespräch. Von da an wurde es einfacher.
Es war allerdings auch nicht so, dass vorher alle unfreundlich zu uns waren. Ich erinnere mich: Als ich noch in der Gärtnerei arbeitete, war ich einmal von Hummeln gestochen worden. Ich ging damit zur Rezeption und machte mich mit Geräuschen und Gesten verständlich, und selbstverständlich halfen sie mir und waren auch sehr freundlich. Aber nach diesem Gespräch mit der Krankenhausleitung wurde es spürbar netter.
Außerdem gab es eine Neuerung: Wer von uns wollte, durfte auf der Station mit den Kindern arbeiten. Da ging es vor allem darum, die Kinder von A nach B zu bringen und sie in den Wartezeiten zu beschäftigen. Ich hatte immer ein Kartenspiel in der Tasche und brachte den Kindern einige Kartenspiele dabei. Trotz der Sprachbarriere klappte das ganz toll.
Einen Jungen, der eigentlich an der Ostseeküste zu Hause war, hatte ich besonders ins Herz geschlossen. Er war relativ lange zur Behandlung in Warschau. Als ich später einmal mit meinem Mann im Urlaub in Polen war, habe ich ihn und seine Familie in seinem Heimatort besucht, und wir wurden dort sehr herzlich aufgenommen. Das schwere Schicksal mancher Kinder ist mir und uns allen oft sehr aufs Gemüt geschlagen. Und ich weiß, dass auch andere Frauen sehr enge Kontakte zu Kindern geknüpft haben, die über unsere Einsätze hinausgingen.
In den Pausen saßen wir mit dem Personal zusammen, und alle versuchten, sich mit Händen, Füßen und dem Wörterbuch mit uns zu unterhalten. Im kommenden Jahr wurde ich dann schon wie ein liebgewordener Gast begrüßt. Das war eine sehr schöne Erfahrung.
Es gab für uns eine Ansprechpartnerin, die Deutsch sprach, das war Ewa1. Sie kam jeden Tag in jeden unserer Arbeitsbereiche und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie kümmerte sich, wenn mal etwas zu klären war, organisierte Ausflüge für uns und lud uns auch privat ein. Das war ein sehr herzliches Verhältnis. Und von Jahr zu Jahr waren wir natürlich auch vertrauter miteinander. Ich habe noch meine ganze Korrespondenz, die ich nach den Einsätzen geführt habe, unter anderem auch mit Ewa.
In den letzten Jahren meiner Reisen nach Warschau wurden wir immer sehr feierlich am Ende der zwei Wochen verabschiedet. Es gab einen Empfang, meist waren der Klinikdirektor da und Vertreter aus allen Bereichen, wo wir gearbeitet hatten. Wir bekamen eine Urkunde und ein kleines Geschenk und viel Dank für unseren Einsatz. Das war wirklich eine schöne Wertschätzung.
Nach der Vormittagsarbeit von montags bis freitags im Krankenhaus hatten wir an den an den Nachmittagen und Abenden und an den Wochenenden Zeit für andere Unternehmungen.
Besonders die evangelischen Gemeinden kümmerten sich um uns und brachten uns die Geschichte Polens und die Sehenswürdigkeiten Warschaus näher. Aber auch das Krankenhaus unterstützte uns. An einem Sonnabend unternahmen wir immer einen Ausflug mit einem Bus, den das Krankenhaus zur Verfügung stellte, und meist begleitete uns Schwester Ewa. So waren wir unter anderem in Krakau, aber auch in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Majdanek.
In der evangelisch-lutherischen und in der reformierten Kirche waren wir sonntags im Gottesdienst und wurden anschließend zum Essen eingeladen. Bei dieser Gelegenheit lernten wir viele Menschen kennen, die uns zum Teil auch die ganze Zeit über immer wieder begleiteten. Etwa Krystyna Rynkiewicz, die in der deutschen Botschaft arbeitete und uns, so oft es ihre Zeit zuließ, begleitete. Die verwitwete Frau des früheren evangelischen Pastors, Ewa Walter, lud uns zu sich nach Hause ein.
Am ausgiebigsten allerdings betreute uns Inka Hansen. Sie war eine kleine Frau mit blitzenden Augen, die ihre Handtasche aus Angst vor Taschendieben immer fest vor dem Bauch trug. Auch ihre Wohnung, in die sie uns immer einlud, war gegen Diebe und Einbrecher geschützt. Sie war eine gebildete Frau, die sehr gut Deutsch sprach und uns ganz Warschau zeigte – vom Schloss Wilanów bis zum Łazienki-Park, vom Kulturpalast bis zur Altstadt. Auch durch das ehemalige Ghetto zum Ghettodenkmal ging sie mit uns und erzählte anschaulich über die Geschichte Polens.
Wir lernten auch einen Mann kennen, der uns dann nach Krakau begleitete. Er war in Krakau aufgewachsen und sprach sehr gut Deutsch. Da bekamen wir also eine wunderbare Führung von ihm. Und auch Mitglieder der reformierten Gemeinde standen uns zur Seite, zum Beispiel Bischof Zdislaw Tranda.
Ein Ausflug ging immer in die nähere Umgebung von Warschau, ins Altersheim der evangelischen Gemeinde „Tabitha“. Vorher haben wir als Gruppe einige Lieder einstudiert, die wir vorsingen wollten. Wenn wir dann ankamen, stellten wir uns auf den Flur und sangen. Dann gingen überall die Türen auf. Die meisten der Einwohner sprachen auch Deutsch und erkannten die Lieder. Sie sangen mit, standen in ihren Türen und freuten sich. Und wir waren glücklich. Es gab dann ein Kaffeetrinken für uns alle und wir konnten uns unterhalten.
So lernten wir im wahrsten Sinne des Wortes Land und Leute in Warschau kennen. Viele Kontakte hielten über die 14 Tage des Einsatzes hinaus. Besonders mit Inka Hansen verband mich eine richtige Freundschaft. Ihren Enkel beherbergten wir in einem Jahr sechs Wochen lang. Er arbeitete hier bei einem befreundeten Ehepaar und wohnte bei uns. Und Inka selbst kam mit ihrer Schwester, die wir ebenfalls aus Warschau kannten, zu Besuch nach Deutschland.
Erzählen möchte ich aber noch ein Erlebnis, das uns in der Gruppe sehr zum Nachdenken gebracht hat. Wir waren an einem Sonntag im Łazienki-Park spazieren und unterhielten uns untereinander. Da drehte sich plötzlich eine alte Frau zu uns um und zischte uns auf Deutsch zu: „Dass ich diese verdammte Sprache noch einmal hören muss!“ Wir waren natürlich erschrocken, hatten aber auch Verständnis.
Wenn ich nach Hause kam, war ich voll mit Erlebnissen und auch einem gewissen missionarischen Eifer. Ich wollte von diesem Projekt, vom Kinderkrankenhaus Warschau und von den evangelischen Gemeinden erzählen – und, wenn es ging, auch etwas Geld sammeln, das ich spenden konnte für dieses Projekt.
Also habe ich mich angeboten, im Frauenkreis meiner eigenen Gemeinde und in anderen Gemeinden Vorträge zu halten. Das Interesse war erst einmal nicht so groß. „Was geht mich das an?“ Und: „Polen ist weit weg.“ Das waren die Meinungen, die mir entgegenkamen. Nach den Vorträgen sah das anders aus, aber das Interesse ging nicht so weit, dass auch mal eine andere Frau mit uns mitgefahren ist. Schade.
Meine Familie musste sich natürlich auch jedes Jahr meine Erlebnisse anhören. Aber deren Interesse war schon größer. Und sie haben sich immer sehr gefreut, dass ich wieder zu Hause war.
Ich bin sehr dankbar, dass ich die Chance hatte, mehrere Male nach Warschau zu fahren, so wunderbare Menschen kennenzulernen und etwas für die Versöhnung von Polen und Deutschen tun zu können.