Ein kleiner Ahornbaum als Zeichen der bleibenden Verbundenheit
Schon lange, bevor ich unmittelbar mit dem Projekt „Kindergesundheits- und Gedächtniszentrum Warschau“ (KGGZ) in Berührung kam, hatte ich mittelbar damit zu tun. Aus unserer westfälischen Landeskirche fuhren nach der Wende1 mehrere Male Frauen zu den Einsätzen nach Warschau und berichteten auf der einen oder anderen Veranstaltung darüber. Außerdem war die Frauenhilfe in Westfalen auch finanziell beteiligt.
Die Vereinigung von Ost- und Westfrauenhilfe habe ich sehr kritisch beobachtet und war beeindruckt von diesem Projekt der Ostfrauenhilfe in Warschau, für dessen Übernahme in die gemeinsame Frauenhilfe sie kämpfte. Ich verstand es so, dass die ostdeutschen Frauen stellvertretend für deutsche Kirchenfrauen Versöhnungsarbeit in Polen geleistet haben. Insofern galt diesem Projekt von Anfang an meine Sympathie, und ich unterstützte es, so gut ich konnte.
Ganz unmittelbar hatte ich mit den Einsätzen in Warschau zu tun, als es zur Gründung der Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD)2 kam. Ich arbeite seit 2008 im EFiD-Präsidium mit, seit 2010 als stellvertretende Vorsitzende. Hier stand das Unternehmen „Versöhnungseinsätze in Warschau“ wieder einmal zur Diskussion. Die Frage war, ob wir als Dachverband diese Art von Projekt überhaupt realisieren können, oder ob wir das Ganze nicht in die einzelnen Verbände spielen sollten.
Dazu muss man wissen: Wir sind als Dachverband EFiD ganz anders aufgestellt als vorher die Evangelische Frauenhilfe in Deutschland. Wir haben Mitgliedsorganisationen, die keinen landeskirchlichen oder verbandlichen Hintergrund haben. Und die Mitgliedsorganisationen, die verbandliche Hintergründe haben, sind in ihrer Verbandsstruktur immer schwächer geworden. Mitglieder, die so aufgestellt sind wie die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen, die auf allen Ebenen der Landeskirche über die Gemeindegruppen, die Kreisverbände, die Bezirksverbände bis zum Landesverband organisiert sind, hat EFiD immer weniger.
Die Frage war: Können wir so ein Projekt, das sich an zehn bis zwölf einzelne Frauen wendet, die sich zusammenfinden, um einen Arbeitseinsatz zu machen, realisieren? Steht das für einen Dachverband im angemessenen Verhältnis zu anderen Arbeitsbereichen? Das waren, soweit ich es in Erinnerung habe, die wichtigsten Fragen, die auch durchaus ihre Berechtigung hatten.
Wir haben uns als Verband für die Weiterführung der Einsätze im KGGZ entschieden. Finanziell hatten wir keine Probleme, die Spenden aus den Mitgliedsorganisationen reichten aus. Aber 2010 gab es eine Anfrage aus der Geschäftsstelle: Die Zusammensetzung der Gruppen entsprach nicht mehr unseren Vorstellungen. Die Frauen waren nur noch selten an eine Mitgliedsorganisation vor Ort gebunden. Dazu kam das zunehmend hohe Alter der Teilnehmerinnen. So trafen wir uns zu einem Gespräch in Görlitz. Wir wollten konzeptionell das Projekt überdenken. Eine der Fragen war, ob Versöhnung nicht mittlerweile eine andere, eine politischere Konnotation hatte. Mir ging auch der Gedanke durch den Kopf: Könnte es ein Projekt werden unter der Überschrift: „Polnische und deutsche Frauen auf dem Weg nach Europa“?
Wir trafen uns in Görlitz, weil es dort schon länger eine gute Zusammenarbeit von polnischen und deutschen Frauen gab. Wir wollten also nicht nur unter uns bleiben, sondern auch ein Gespräch mit den polnischen Frauen führen. Ein Teil des Präsidiums von EFiD war dabei, die Geschäftsstelle und als Gastgeberin Petra-Edith Pietz, die frühere Landespfarrerin für Frauen- und Familienarbeit in der Evangelischen Kirche der schlesischen Oberlausitz 3 und jetzt Theologischer Vorstand der Stiftung Martinshof Rothenburg Diakoniewerk. Bei diesem Zusammentreffen ist eine Idee entstanden: eine Zusammenarbeit mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste4 anzustreben. Aktion Sühnezeichen hatte das ganze Projekt in den 70er Jahren in der DDR mit begonnen. Da gab es also schon eine Verbindung. Und wir erhofften uns neue Impulse und natürlich auch eine Verjüngung der Gruppen.
Mit dieser Idee fuhren wir 2011 nach Warschau ins Kinderkrankenhaus. Es war für mich die erste Reise dorthin und hat mich sehr beeindruckt, vor allem die Dimension des Krankenhauses und die vielen hoch spezialisierten und mit der neuesten Medizintechnik ausgestatteten Bereiche. Und ich konnte mir – ehrlich gesagt – kaum vorstellen, dass Menschen, die so ein Klinikum verantworten, Wert darauf legen, dass zehn deutsche Frauen zwei Wochen im Sommer in ihrem Garten arbeiten. Es beschämte mich fast zu erleben, mit welcher Wertschätzung sie uns begegneten. Da waren der Ärztliche Direktor dabei, die Pflegedirektorin, Abteilungsleiterinnen und –leiter. Sie haben uns sehr deutlich gesagt, dass sie möchten, dass das Projekt weitergeführt wird. Es ist in dem Geist dieses Hauses sehr präsent, dass es im Gedenken an die Kinderopfer des Zweiten Weltkrieges entstanden ist. Das Krankenhaus würdigt bis heute, wie stark das Engagement für den Aufbau des KGGZ aus den Kirchen und aus der Frauenhilfe der DDR gewesen ist. Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR hat sich sehr intensiv beteiligt, aber auch Kirchenvertreter aus dem Westen. Aus diesem Gedanken heraus baten sie uns, das Projekt, wenn möglich, weiterzuführen.
Auch unsere anderen Partnerinnen in Warschau – die evangelischen Kirchen, insbesondere Halina Radacz, Diakonin der Evangelisch-lutherischen Kirche und die Koordinatorin des Projektes vor Ort – waren sehr daran interessiert, dass wir weitermachen und die über Jahrzehnte gewachsenen Kontakte aufrechterhalten.
Zusammen mit ASF erarbeiteten wir ein Konzept. Jeweils etwa fünf Frauen sollten über beide Organisationen teilnehmen. Dazu planten wir eine Doppel-Leitung. Das Projekt war auf vier Jahre begrenzt. Wir konnten unsererseits die Pastorin im Ruhestand Sylvia Herche gewinnen, die mit großem Engagement alle vier Einsätze leitete. Wenn man ihre Berichte liest, ist zu merken, dass die Zusammenarbeit mit ASF ein großer Gewinn war.
Gleichwohl schlug die Geschäftsstelle nach diesen vier Jahren vor, die Einsätze zu beenden, weil der Aufwand in keinem Verhältnis mehr zum eigentlichen Ergebnis stand. Es war weiterhin schwierig geblieben, geeignete Frauen zu finden, die tatsächlich eine Beziehung zur evangelischen Frauenarbeit hatten und im Geist der Versöhnung dort mitarbeiten wollten. Wir haben im Präsidium und in der Mitgliederversammlung darüber diskutiert und uns letztendlich und schweren Herzens für eine Beendigung des Projekts entschieden. Allerdings unter der Maßgabe, dass das Projekt dokumentiert wird, und dass es weiterhin Kontakte zu den polnischen evangelischen Kirchen geben soll. So ist jetzt Frau Herche unsere Beauftragte für die Kontakte nach Polen. Unter anderem nimmt sie für uns jedes Jahr am Frauenforum der evangelischen Kirchen in Polen teil. Außerdem hoffen wir sehr, dass ASF das Projekt weiterführt.
Das Personal und die Leitung des Krankenhauses haben Verständnis für unseren Entschluss aufgebracht und eine wunderbare Abschiedsveranstaltung organisiert, zu der auch frühere Weggenoss_innen eingeladen waren und Vertreter_innen vieler gesellschaftlicher Gruppen, mit denen die deutschen Frauen in der langen Geschichte des Projekts zu tun gehabt hatten. Es wurde uns wieder so eine hohe Wertschätzung entgegengebracht, dass ich am liebsten aufgesprungen wäre und gerufen hätte: „Ach, wir überlegen uns das noch einmal.“ Das habe ich natürlich nicht getan, aber der Impuls war da. In meiner kurzen Rede habe ich gesagt: „Nun beenden wir diesen Teil unserer gemeinsamen Geschichte und hoffen für die Zukunft auf andere Möglichkeiten, gemeinsam an einem versöhnten Europa arbeiten zu können.“
Als Geschenk hatten wir einen kleinen Ahornbaum mitgebracht, den wir dort gepflanzt haben. Er soll ein bleibendes Zeichen unserer Verbundenheit sein.
Während unserer Begegnungen in Warschau ist mir noch einmal klar geworden, wie viele Kontakte und Verbindungen es jetzt gibt zwischen deutschen und polnischen Frauen und Männern durch unser Projekt. Wie viele Menschen sich wegen dieses Projekts dem Thema Versöhnung gestellt haben – auf deutscher und auf polnischer Seite.
Die Frage der Versöhnung stand bei uns im Verband auf der Tagesordnung. Ist Versöhnung noch nötig? Brauchen wir nicht einen anderen Begriff? Hat sich der Versöhnungsgedanke nicht abgenutzt?
Als ich 2011 und 2015 in Warschau war, hat sich diese Frage für mich nicht mehr gestellt. 2015 haben wir an den Gedenkfeiern zum Warschauer Aufstand5 teilgenommen. Da war mir völlig klar, dass die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs immer Versöhnung brauchen werden – auch wenn die polnische Regierung selbst zurzeit leider keine versöhnliche Politik betreibt. Ich habe dort erst begriffen, wie wichtig der Bevölkerung das Gedenken an den Aufstand ist. Ich habe so etwas noch nie gesehen: eine ganze Stadt ist auf den Beinen, überall Blumen und Kerzen. Dann am Abend das Singen der Lieder des Aufstands auf einem großen Platz. Es war ergreifend.
Das Projekt im Kinderkrankenhaus hat uns eine wunderbare Gelegenheit gegeben, zur Versöhnung beizutragen – durch die praktische Arbeit, ohne große theoretische Konzeptionen, ganz einfach in der Begegnung mit den anderen. Auch persönlich habe ich neue Anknüpfungspunkte in meiner eigenen Familiengeschichte, aber auch in Gesprächen im Bekannten- und Freundeskreis gefunden. Sollte das Projekt von ASF weitergeführt werden, dann möchte ich eigentlich unbedingt mitfahren.