Christine Küfner

Mein Bild von Polen hat sich verändert.

Ich glaube, alles hat schon 1947 angefangen, als ich noch ein kleines Kind war, noch nicht einmal in der Schule. Ich fuhr zu einer Kindererholungskur nach Apolda. Eines Tages besuchten uns Jugendliche, die in der FDJ waren, und erzählten uns von den Grausamkeiten, die Deutsche im 2. Weltkrieg verübt hatten. Sie erzählten uns von den Konzentrationslagern. Und sie redeten uns ins Gewissen, dass wir wieder gutmachen müssten, was da geschehen war. Wenn ich mir heute überlege, was die uns kleinen Knirpsen da zugemutet haben, bin ich entsetzt.
Ich wollte dann meine ganze Kindheit und Jugend lang in die FDJ eintreten, aber mein Vater erlaubte es lange Zeit nicht; der Grund dafür war die Kirchenfeindlichkeit der sozialistischen Jugendorganisation. Als ich am Ende meiner Schulzeit doch noch Mitglied werden durfte, hatte es für mich auf einmal gar keine Bedeutung mehr.

 

„Da willst du mitfahren!“

Nach der Schule begann ich eine kirchliche Ausbildung und hörte ab und an etwas über „Aktion Sühnezeichen“. Mir erschien diese Organisation aber mehr wie ein geschlossener Kreis, der wenig über sich bekannt machte und auch nicht jeden hineinließ. Man hörte kaum etwas. Vielleicht waren sie vorsichtig, weil ihre Arbeit vom Staat bedroht wurde und sie ja auch Kontakt mit Ausländern hatten. Ich weiß es nicht. Aber es interessierte mich immer, und ich blieb hellhörig.
Als ich schon längst verheiratet, Pfarrfrau und Mutter war, las ich eines Tages in der thüringischen Kirchenzeitung einen Artikel über einen Einsatz von Jugendlichen im Kinderkrankenhaus in Warschau. Darin wurde etwas ausführlicher darüber berichtet, unter anderem auch, dass die Jugendlichen dort schon seit mehreren Jahren hinfuhren.
In diesem Moment, 25 Jahre nach meiner Kinderkur, wusste ich: „Das ist es. Da willst du mitfahren.“ Es muss 1982 gewesen sein. Ich wurde aktiv und machte mich kundig, an wen ich mich wenden musste. Mir wurde der Name Martin Herrbruck genannt, der beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR im Ökumenischen Jugenddienst arbeitete und für diese Einsätze zuständig war. Ich schrieb ihm einen Brief, in dem ich mein Interesse an so einem Einsatz bekundete. Ich schrieb ihm, dass ich es ganz großartig finde, dass Jugendliche dorthin fahren, dass ich aber vermisse, dass auch Erwachsene fahren können, zumal sie noch viel näher am Kriegsgeschehen dran gewesen sind und ein Bedürfnis zur Versöhnungsarbeit hätten.

 

1983 ist es soweit.

Es dauerte eine Weile mit der Antwort. Doch dann wurde mir gestattet, 1983 mit einer Jugendgruppe nach Warschau zu fahren. In dieser Gruppe war ich neben den Leitern die einzige ältere Teilnehmerin.
Wir trafen uns in Frankfurt/Oder auf dem Bahnhof und fuhren als Gruppe mit dem Zug nach Warschau. Dort wurden wir aufgeteilt in Zweier- und Dreiergruppen und bekamen unsere Zimmer im Elternhotel des Krankenhauses.
Man konnte dann entweder im Garten oder in der Wäscherei arbeiten. Ob von den Jungs vielleicht welche in der Technik waren, kann ich nicht sagen, ich habe jedenfalls im Garten gearbeitet. Es war ein heißer Sommer, und wir haben mächtig geschwitzt. Die Gartenanlagen sind sehr weitläufig, und es gab unheimlich viel zu tun. Aber die in der Wäscherei hatten es an der Mangel noch heißer als wir und waren immer ganz schön geschafft.
Ich erinnere mich an einen Regentag, an dem wir durch die Krankenhausflure zogen und bei allen Grünpflanzen die Blätter mit einem Schwämmchen abwischten. Dabei sahen wir, wie unglaublich grün dieses Krankenhaus durch die vielen Pflanzen wirkte und wie schön es dadurch dort aussah.
Das Personal wusste schon, dass wir kommen und hatte sich auf uns eingerichtet. Manch eine Frau dort sprach etwas Deutsch, ansonsten verständigten wir uns mit Händen und Füßen. Es gab immer eine Frühstückspause, in der wir miteinander geredet und viel gelacht haben. Als ich einige Jahre später zum dritten Mal in die Gärtnerei kam, fielen wir uns schon zur Begrüßung um den Hals. Es war ein sehr herzliches Miteinander.

 

Engagement unter Stasi-Beobachtung

Nach meinem Einsatz in Warschau war ich sehr beseelt von dem Auftrag, für dieses Projekt Werbung zu machen und Geld zu sammeln. So hielt ich an verschiedenen Orten Vorträge darüber. Bei meinem ersten Bericht in meinem Heimatort Nebra, war ein IM der Stasi dabei und hat darüber geschrieben:

“Weiter möchte ich Vorhergehendes ergänzen, dass die Frau des Pfarrers Küfner, Christine, wohnhaft in Nebra, aus der Kirchenzeitung eine Annonce gefunden hat. Aus dieser Annonce ging hervor, dass im Rahmen der Aktion Sühnezeichen jährlich mehrere Reisegruppen der evangelischen Kirche nach Polen reisen, um das Denkmal, das dort mit internationaler Beteiligung errichtet wurde, zu unterstützen bzw. dort in irgendeiner Form mit tätig zu werden. Diese körperliche Arbeit soll ein Beitrag sein der Wiedergutmachung. Im Mai war die Annonce in der Zeitung. Daraufhin wurde von dem Pfarrer Küfner das Konsistorium Magdeburg angeschrieben. Von dort wurde das Schreiben weitergeleitet nach Berlin. Konkret ging es um eine Beteiligung an dieser Reisegruppe in Polen. Nach längerer Zeit kam dann über Naumburg über den Superintendenten die Bestätigung, dass die Frau Küfner mit der Reisegruppe mit nach Polen fahren könne. Zur Vorbereitung dieser Reise wurde eine erste Zusammenkunft in Bernau bei Berlin vereinbart. Ende Juli 83. Küfner und seine Frau ließen bis einen Tag vor dem Termin der Reise nichts verlauten, dass die K. nach Polen fährt. Für die Sammlung der Mitglieder der Reise war Frankfurt angegeben. Die Anfahrt nach Frankfurt folgte mit K. mit PKW. Weiter dann nach Warschau mit Unterbrechungen. Auf der Rückfahrt wurden in Lodz Privatquartiere bezogen. Die Fahrt war nach Einschätzung unproblematisch und ohne Kontrolle. Die Arbeiten, die im Krankenhaus durchgeführt wurden, waren unqualifiziert, d.h. vom Gras rupfen bis zum Arbeiten im Garten. Ein unmittelbarer Kontakt mit den Patienten, den Ärzten und dem Pflegepersonal bestand nicht. Kontakte, die sehr förmlich waren, fanden nur zur Begrüßung und zum Abschluss statt. Diese Kontakte waren auch nur im engen Rahmen. Von Warschau wurden an bestimmten Tagen Ausflüge nach Warschau und Umgebung unternommen. Es wurde auch das ehemalige Konzentrationslager besucht und Vorträge gehört, z.B. der Pater… sprach zur Reisegruppe. Angeblich kommen keine Kontakte zustande, weil Sprachschwierigkeiten bestehen. Der der Reisegruppe beigegebene Dolmetscher hatte keine Möglichkeiten, Kontakte herzustellen bzw. lehnte dieses mit Arbeitsüberlastung ab.
Den Bericht dieser Reise gab die Frau Küfner anlässlich einer kirchlichen Veranstaltung in Nebra zum Lutherkreis und in einem Diavortrag. Und einen zweiten Bericht gibt sie noch im Januar 84, wo über Warschau und Lodz und die dortigen Verhältnisse gesprochen wird. Die Frau K. gehört zu einer Arbeitsgruppe der Kirche für Jugendarbeit im Rahmen der Aktion Sühnezeichen. Diese Arbeitsgruppe trifft sich vierteljährlich einmal in Berlin, Potsdam oder in anderen Orten der DDR. Schwerpunktmäßig im Berliner Raum. Und trifft sich halbjährig auch wieder in Potsdam oder Berlin, wo die Leute aus der BRD, Schweiz, Österreich und DDR sich treffen.“

Wie wir nach der Wende erfuhren, gab es einen sehr guten Bekannten von uns, der diese Berichte verfasst hat. Seine Einschätzung, dass ich zu einer Arbeitsgruppe der Kirche für Jugendarbeit gehörte, war völlig falsch. Aber ansonsten hat er sehr genau zugehört. Über meine späteren beiden Einsätze in Warschau habe ich in der Akte nichts gefunden.

 

„Das ist das polnische Geheimnis.“

Ich verfolgte das Projekt weiter, sammelte jedes Jahr auch Geld dafür und wurde 1986 gefragt, ob ich wieder mitfahren wolle. Da fuhr zum ersten Mal eine Frauengruppe. In diesem Jahr und auch 1988 war ich Mitglied der Gruppe.
Natürlich haben wir, außer im Krankenhaus zu arbeiten, noch sehr viel mehr erlebt in Polen. Unser Einsatz stand unter der Überschrift „Versöhnung“ – und so beschäftigten wir uns viel mit dem, was im 2. Weltkrieg in Polen passiert ist. Wir besichtigten das Konzentrationslager Majdanek, das Ghetto in Warschau, das frühere Gefängnis „Pawiak“, in dem viele Kämpfer des Warschauer Aufstands umgebracht wurden und das heute ein Museum ist. Und wir waren im Kloster in Niepokalanów, das Pater Maximilian Kolbe gegründet hat. Dort erfuhren wir viel über sein Leben und sein Sterben im Konzentrationslager. Wir trafen auch einen Pater, der Maximilian Kolbe noch persönlich gekannt hat. Das alles waren sehr bewegende und auch aufwühlende Besuche.
Es gab für uns aber auch persönliche Kontakte mit polnischen Menschen, vor allem in der evangelischen Kirche. Dort besuchten wir den Gottesdienst und waren anschließend zum Gespräch und zu einem Imbiss eingeladen. Auch der Vorsitzende des Polnischen Ökumenischen Rats empfing uns und berichtete über die Geschichte und Gegenwart Polens.
Wir besuchten die Blindenanstalt in Laski und das Altersheim „Tabitha“. Allerdings weiß ich das nur noch, weil ich Prospekte davon in meinen Unterlagen gefunden habe; erinnern kann ich mich daran nicht.
Aber zwei andere Dinge sind mir noch sehr gegenwärtig. Das eine ist, dass wir in Tschenstochau die Wallfahrtskirche besichtigten. Ich war sehr unbedarft, was die katholische Kirche betraf, und kannte mich mit den Riten in keiner Weise aus. Mit uns zusammen waren unheimlich viele Menschen in der Kirche, und ich wurde ganz nach vorne an den Altarraum geschoben. Dann erschien ein Priester mit einem Weihwasserkessel. So etwas hatte ich noch nie gesehen, und ich wusste überhaupt nicht, wie ich mich verhalten sollte. Plötzlich knieten alle und ich stand als einzige. In allen Einzelheiten weiß ich es nicht, mehr, aber das Gefühl von peinlicher Unkenntnis ist mir im Gedächtnis geblieben. Das war meine erste Begegnung mit der polnischen, katholischen Frömmigkeit.
Eine zweite besondere Begegnung ist mir auch noch sehr gut im Gedächtnis. Wir hatten Kontakt zu einem polnischen Dichter, der für unsere Gruppe manche Kontakte und Termine organisierte. Einmal lud er uns zu sich nach Hause ein und bewirtete unsere ganze Gruppe fürstlich. Dabei ging es den Polen in den 80er Jahren wirtschaftlich nicht sehr gut. Als ich ihn darauf ansprach und nachfragte, wie er es denn fertigbringe, uns alle zu bewirten, sagte er nur: „Das ist das polnische Geheimnis.“ Das hat mich sehr beeindruckt. Zu Hause in meiner Familie wurde dieser Satz zum geflügelten Wort. Er schenkte mir einen Gedichtband mit gesammelten Gedichten verschiedener polnischer Dichter und Dichterinnen.
Natürlich haben wir uns auch Warschau angeschaut und am Wochenende auch mal etwas Touristisches gemacht. Warschau hat mich sehr beeindruckt. So eine wunderschöne Stadt. Wir waren auch in diesem Park, in dem sonntags Chopin-Musik gespielt wird. Die ganze Atmosphäre in der Stadt war so angenehm und festtäglich. Wenn Pärchen unterwegs waren, trugen die Frauen häufig eine rote Rose in der Hand. Das hat mir sehr gefallen.

 

„Die Einsätze haben mich aufgerüttelt und mein Bild von Polen verändert.“

Meine Einsätze in Warschau haben mich aufgerüttelt. Ich sagte schon, dass ich nach meinem ersten Aufenthalt 1983 begann, Vorträge zu halten und Geld für das Projekt zu sammeln. Ich beschäftigte mich aber auch mit meiner eigenen Vergangenheit. Ich bin als kleines Kind mit meiner Mutter 1945 aus Schlesien geflohen. Nach einem Umweg über die Tschechoslowakei kamen wir in ein Flüchtlingslager in der Nähe von Salza. Und erst als ich Jahrzehnte später im früheren Konzentrationslager Auschwitz stehe, begreife ich, dass wir damals in ein gerade geräumtes Konzentrationslager gekommen sind. Die Anlagen zum Waschen unter freiem Himmel waren in beiden Lagern die gleichen. Und ich erinnerte mich…
Natürlich bin ich nicht die einzige, die Erinnerungen an den Krieg und das Jahr 1945 hat. Vielen von denen, vor denen ich meine Vorträge gehalten habe, ging es genauso. Sie konnten verstehen, warum es mich mit einem immerwährenden Schuldgefühl zu diesen Einsätzen in das Kinderkrankenhaus gezogen hat. Das habe ich gespürt.
Durch meine Aufenthalte in Polen hat sich auch mein Bild von den Polinnen und Polen verändert. Sie erschienen mir so kultiviert. Sie waren alle gut, die Frauen meistens elegant angezogen. Die Umgangsformen empfand ich sehr viel angenehmer als in der DDR. Durch meine Mutter waren mir Vorurteile vermittelt worden, die sich ausdrückten in den Redewendungen: „Wer beim Essen singt, kriegt einen polnischen Mann.“ Oder auch der Ausdruck „polnische Wirtschaft“. Beides war nicht positiv gemeint. Das deckte sich nicht mit meinen Erfahrungen in Polen.
Ich habe bewundert, dass sich die Polen als Volk eine eigene Identität bewahrt haben. Weder der Zweite Weltkrieg noch der Sozialismus konnten ihrem Katholizismus und ihrem Nationalstolz etwas anhaben. Das habe ich nicht nur bewundert, sondern auch beneidet.

Die Versöhner_innen.